Jüngst abgeschlossene Projekte
Christentum und gesellschaftlicher Wandel seit den 1960er Jahren
Seit den 1960er Jahren hat sich das religiöse Feld in Deutschland und Europa deutlich verändert, mit erheblichen Auswirkungen auf die christlichen Großkirchen. Die Veränderungen in Religion und Kirche lassen sich als Antworten auf die Herausforderungen, Möglichkeiten und Probleme des gesellschaftlichen Wandels deuten. Der epochale Umbruch des Christentums im Kontext sich beschleunigt verändernder Gesellschaften bedarf hinsichtlich Ursachen, Art und Umfang einer gründlichen historischen Erforschung. Die Wandlungsprozesse im Christentum und ihr Verhältnis zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen sind ein weites Forschungsfeld, durch das die EvAKiZ Schneisen schlagen möchte.
Bisherige Publikationen in der AKiZ-Reihe B:
Bd. 47:
Siegfried Hermle / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007.
Bd. 51:
Angela Hager: Ein Jahrzehnt Hoffnung. Reformgruppen in der bayerischen Landeskirche 1966–1976. Göttingen 2010.
Bd. 52:
Klaus Fitschen / Siegfried Hermle / Katharina Kunter / Claudia Lepp / Antje Roggenkamp-Kaufmann (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. Göttingen 2011.
Bd. 53:
Gisa Bauer: Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989). Göttingen 2012.
Bd. 56:
Alexander Christian Widmann: Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren. Göttingen 2013.
Bd. 58:
Katharina Kunter / Annegreth Schilling (Hg.): Globalisierung der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die Entdeckung der Dritten Welt in den 1960er und 1970er Jahren. Göttingen 2014.
Bd. 62:
Karin Oehlmann: Glaube und Gegenwart. Die Entwicklung der kirchenpolitischen Netzwerke in Württemberg um 1968. Göttingen 2016.
Bd. 63:
Annegreth Schilling: Revolution, Exil und Befreiung. Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren. Göttingen 2016.
Bd. 65:
Claudia Lepp / Harry Oelke / Detlef Pollack (Hg.): Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre. Göttingen 2016.
Bd. 70:
Luise Schramm: Evangelische Kirche und Anti-AKW-Bewegung. Das Beispiel der Hamburger Initiative kirchlicher Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion im Konflikt um das AKW Brokdorf 1976-1981. Göttingen 2018.
Aufsätze der MitarbeiterInnen der Forschungsstelle außerhalb der AKiZ:
Claudia Lepp: Gewalt und gesellschaftlicher Wandel. Protestantische Kontroversen über politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren. In: Historisches Jahrbuch 128, 2008, S. 523–539.
Claudia Lepp: „1968“ – ein Thema der religions- und kirchengeschichtlichen Forschung? In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 2, 2008, S. 57–66.
Claudia Lepp: Protestantismus und gesellschaftlicher Wandel. Die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre im Fokus der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. In: Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 98, 2009, S. 507–512.
Claudia Lepp: Zwischen Konfrontation und Kooperation: Kirchen und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik (1950–1983). In: Zeithistorische Forschungen 7, 2010, S. 364–385.
Alexander Christian Widmann: Der „Linksprotestantismus“ und die evangelischen Kirchen in den 1960er und 1970er Jahren. In: Baumann, Cordia/Gehrig, Sebastian/Büchse, Nicolas (Hg.): Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren (Akademie-Konferenzen 5). Heidelberg 2011, S. 211–236.
Alexander Christian Widmann: Ergebnisse des DFG-Projektes „Kontroversen über Gewalt und gesellschaftlichen Wandel“. In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 6 (2012), S. 169–177.
Claudia Lepp: Protestanten im New Age. Evangelische Kirche und neue religiöse Bewegungen in der Bundesrepublik während der 1970er und 80er Jahre. In: Christoph Schwöbel (Hg.): Gott – Götter – Götzen. Leipzig 2013, S. 551–568.
Claudia Lepp: Hat die Kirche einen Öffentlichkeitsauftrag? Evangelische Kirche und Politik seit 1945. In: Christoph Landmesser/Enno Edzard Popkes (Hg.): Kirche und Gesellschaft. Kommunikation – Institution – Organisation. Leipzig 2016, S. 107–130.
Claudia Lepp: Die Evangelische Kirche in Deutschland in den 1990er Jahren: Erste zeitgeschichtliche Erkundungen. In: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 12, 2018, S. 103–111.
Claudia Lepp: Ein protestantischer Think Tank in den langen sechziger Jahren der Bundesrepublik: Georg Picht und die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 13, 2019, S. 109–132.
Claudia Lepp: Bewegung in der evangelischen Kirche auf dem Lande. In: Lu Seegers (Hg.): 1968. Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande. Göttingen 2020, S. 79–97.
Evangelische Auslandsgemeinden im 20. Jahrhundert
Die globalen Migrationsbewegungen der Gegenwart und die Beobachtung, dass Deutschland in den letzten Jahren zum Ziel für Einwanderung aus aller Welt geworden ist, haben den Blick dafür geschärft, dass Deutschland über Jahrhunderte selbst ein Auswanderungsgebiet war und die Geschichte vieler Deutscher von Emigration, Flucht und Exil geprägt war. Daraus ergeben sich auch für die bislang überwiegend national orientierte kirchenhistorische Forschung zum deutschen Protestantismus neue Perspektiven. Mit dem Thema „evangelische Auslandsgemeinden“ rückt erstmals ein kircheninstitutionelles Thema in den Horizont der Globalgeschichte.
Dabei stellen sich folgende Fragen:
- Wie verhielten sich evangelische Auslandsgemeinden zu den beiden Weltkriegen und zum Nationalsozialismus?
- Wie gestaltete sich ihr Umgang mit der NS-Vergangenheit?
- Wie äußerte und entwickelte sich das Verhältnis zu Deutschland nach dem Krieg (Verselbstständigung, „Verkirchlichung“, Verhältnis zur EKD)?
- Wann und warum kam es zu Prozessen der Akkulturation im Gastland und wie gestalteten sie sich?
Ein erster Versuch, diese Fragen zu beantworten, wurde auf der interdisziplinären Tagung der EvAKiZ im Juni 2018 in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut in London unternommen. Hier zeigte sich, dass eine zukünftige Forschung zum Thema „Auslandsgemeinden“ nur multiperspektivisch, vergleichend und transnational angelegt sein kann. Die Vergleichbarkeit der oft sehr unterschiedlichen Gemeindetypen könnte durch einen Katalog von jeweils zu ermittelnden Parametern wie „praktizierte Theologie“, „Rolle der Sprache“, „soziale, generationelle und geschlechtliche Zusammensetzung der Gemeinden“ und „Netzwerke“ gesichert werden. Ein solcher Ansatz ist nur durch einen international und interdisziplinär zusammengesetzten Verbund dezentral arbeitender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu verwirklichen.
Mögliche Quellen sind Gemeindearchive, Archive von kirchlichen Zusammenschlüssen und Verlagen vor Ort sowie Sammlungen, Nachlässe und Personalakten von Auslandspfarrern und Pfarrerinnen in den landeskirchlichen Archiven und im Evangelischen Zentralarchiv.
Bisherige Publikationen in der AKiZ-Reihe B:
Bd. 79:
Andreas Gestrich / Siegfried Hermle / Dagmar Pöpping (Hg.): Evangelisch und deutsch? Auslandsgemeinden im 20. Jahrhundert zwischen Nationalprotestantismus, Volkstumspolitik und Ökumene. Göttingen 2021.
Bd. 80:
Daniel Lenski: ‚Die Kirche unserer Väter‘. Deutschtumskonstruktionen in der Chile-Synode und der Deutschen Evangelischen Kirche in Chile. Göttingen 2021.
Bd. 86:
Jan Lohrengel: Evangelisch in der Türkei. Eine Auslandsgemeinde im Kontext nationalsozialistischer Machtpolitik – das Beispiel Istanbul. Göttingen 2022.
Gesellschaftliche Integration und nationale Identität
Migration und Integration stellten für die Bundesrepublik seit ihrer Gründung eine politische und soziale Herausforderung dar und bargen zugleich Potential für wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Die Aufnahme erfolgte in einer Gesellschaft, die zwischen Kriegsende und Wiedervereinigung fundamentale Wandlungen durchlief und auf der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis war. Für den westdeutschen Protestantismus bedeuteten die Zuwanderungen Anlass zu humanitär-diakonischem Engagement, aber auch zu sozialethischer Stellung- und Einflussnahme. In den protestantischen Beiträgen zu den Debatten um Migration und Integration wurden – je nach Migrantengruppe und Zuwanderungszeitpunkt – durchaus unterschiedliche ethische und politische Themen explizit und implizit verhandelt. Ebenso variierten die protestantischen Debattenakteure und die von ihnen gewählten Aktions- und Sozialformen.
In der ersten Projektphase standen die konfliktualen Integrationsdebatten nach einer erzwungenen Massenmigration in den gleichen Nationalverband im Focus: Analysiert wurden protestantische Vorstellungen von der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Integration der Ostvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft. Dabei wurden die Integrationsdebatten der fünfziger und sechziger Jahre auch als gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse interpretiert, in denen Modernisierungs- und Transformationsprozesse diskursiv verarbeitet wurden.
In der zweiten Projektphase stehen Debatten über eine fortlaufende Zuwanderung von Migranten unterschiedlichster Herkunftsgebiete und deren individuelle Motive im Mittelpunkt. Damit verlagert sich der Akzent auf die jeweilige Aufnahmesituation und die Aufnahmeverfahren sowie auf die bundesdeutsche Aufnahmebereitschaft im Spannungsfeld von nationalen Interessen und humanitärer Solidarität.
Publikationen:
Felix Teuchert: Die verlorene Gemeinschaft. Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972). Göttingen 2018.
Claudia Lepp: Die Vertriebenenproblematik auf den frühen Kirchentagen: Herausforderung und Chance. In: Ellen Ueberschär (Hg.): Deutscher Evangelischer Kirchentag. Wurzeln und Anfänge. Gütersloh 2017, S. 204–219.
Felix Teuchert: Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche. In: Theologie.Geschichte 12 (2017).
Claudia Lepp: Die demokratische Ordnung als Gegenstand des deutsch-deutschen Kirchendialogs. In: Hans Michael Heinig (Hg.): Aneignung des Gegebenen – Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD. Tübingen 2017, S. 23–50.
Claudia Lepp: Hat die Kirche einen Öffentlichkeitsauftrag? Evangelische Kirche und Politik seit 1945. In: Christoph Landmesser/Enno Edzard Popkes (Hg.): Kirche und Gesellschaft. Kommunikation – Institution – Organisation. Leipzig 2016, S. 107–130.
Claudia Lepp: Radiointerview für den Beitrag "50 Jahre danach. Die Wirkungsgeschichte der Ostdenkschrift der EKD“, Deutschlandfunk vom 21.10.2015. Verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-danach-die-wirkungsgeschichte-der-ostdenkschrift.886.de.html?dram:article_id=334508
Claudia Lepp: Polityczny, spoleczny i kościelny kontekst powstania Memorandum Wschodniego / Der politische, gesellschaftliche und kirchliche Kontext der Entstehung der Ostdenkschrift. In: Na drodze pojednania – 50-lecie Memorandum Wschodniego Kościola Ewangelickiego w Niemczech / Auf dem Weg zur Versöhnung – Zum 50. Jahrestag der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Warszawa 2015, S. 28–62.
Claudia Lepp: Der Protestantismus in den Debatten um gesellschaftliche Integration und nationale Identität. In: Christian Albrecht/Reiner Anselm (Hg.): Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949–1989, Tübingen 2015, S. 65–80.
Felix Teuchert: Normativer Anspruch, theologische Deutung und soziologische Analyse. Die evangelische Akademie Hermannsburg-Loccum in den Debatten über die Integration der Ostvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft. In: Ebd., S. 169–198.
Felix Teuchert / Philipp Stoltz: Integration durch Architektur? Überlegungen und Beobachtungen zum Zusammenhang von Vertriebenenintegration und Kirchbau in der Nachkriegszeit, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 9 (2015), S. 41–66.
Felix Teuchert: Identität im Konflikt. Die Integration der Ostvertriebenen im deutschen Protestantismus und die Bewältigung kultureller und konfessioneller Differenz. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 128 (2017), S. 339–354.
Felix Teuchert: Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche. In: Theologie.Geschichte 12 (2017).
Claudia Lepp (zus. mit Christiane Kuller): Der Protestantismus in den Arenen des Politischen. Eine zeithistorische Perspektive. In: Albrecht, Christian / Anselm, Reiner (Hg.): In Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen. Tübingen 2019, S. 315–324.
Jonathan Spanos: Anwaltschaftliche Verantwortung? Politische Einflussnahme des Flüchtlingsbeirats der EKD in den 1950er und 1960er Jahren. In: Albrecht, Christian / Anselm, Reiner (Hg.): In Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen. Tübingen 2019, S. 141–163.
Claudia Lepp (Hg.): Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure nach 1945. Göttingen 2020.
Jonathan Spanos (zus. mit Malte Hakemann): Der Protestantismus und die Debatte um die Asylrelevanz von Folter in den 1980er Jahren. In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 14 (2020), 11–41.
Jonathan Spanos (zus. mit Malte Hakemann): Grenzen des Dialogs: Die Debatte um die Asylrelevanz von Folter in den 1980er Jahren. Zwischen juristischer Skepsis und protestantischem Engagement. In: Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht 65 (2020), S. 172–203.
Jonathan Spanos: Flüchtlingsaufnahme als Identitätsfrage. Der Protestantismus in den Debatten um die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik (1949–1993). Göttingen 2022.
Hermann Kunst: Berichte zur Lage 1951 bis 1977
Eine kommentierte Auswahledition
Hermann Kunst (1907–1999) war zwischen 1950 und 1977 Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz der Bundesregierung in Bonn. Seine Aufgabe bestand darin, die Kirche nach außen zu vertreten und für den Informationsfluss zwischen Ratsmitgliedern, Regierungsorganen, Parteizentralen und den Zentralen tragender gesellschaftlicher Gruppen im In- und Ausland zu sorgen.
In den Lageberichten, die Kunst regelmäßig auf den Ratssitzungen erstattete, ging es darum, dem Rat Informationen aus den genannten Gruppen zu vermitteln, damit die Ratsmitglieder prüfen konnten, ob und wie sich die EKD in aktuelle politische Diskussionen und Konflikte einschalten sollte.
Die vorliegenden 160 Lageberichte sind wegen ihrer schweren Lesbarkeit bislang kaum von der Forschung beachtet worden. Ihre Edition ermöglicht über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten Einblicke in die Perspektive eines evangelischen Kirchendiplomaten auf die Weltpolitik, die deutsch-deutschen Verhältnisse und die bundesrepublikanische Innenpolitik.
Ziel der Edition ist es, das Wissen über das politische und kirchliche Selbstverständnis der EKD zu vertiefen. Dabei geraten das Verhältnis zwischen EKD und Bundesrepublik, DDR, katholischer Kirche und Außenpolitik in den Blick, aber auch aktuelle innenpolitische Konflikte und Ereignisse wie Linksextremismus, Rücktritt der Regierung Brandt, Wirtschaftskrise, Notstandsgesetzgebung oder die Diskussionen zum § 218.
Bearbeiterin: Dr. Dagmar Pöpping
Zugehörige Publikation in der AKiZ-Reihe A:
A 22:
Nachrichten aus der Politik. Die Lageberichte Hermanns Kunsts für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1951–1977. Analyse und Edition. Bearbeitet von Dagmar Pöpping. Göttingen 2023.
Die Protokolle der Sitzungen des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland (1945–1949)
Eine kritische Edition
Der Reichsbruderrat der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) entstand 1934 als eines der leitenden Organe der kirchenpolitisch-theologischen Opposition gegen die deutsch-christlichen Kirchenleitungen in fast allen Landeskirchen. Der Begriff Bruderrat war bereits zuvor in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit aufgetaucht. So wurde der Pfarrernotbund von einem „Bruderrat“ geleitet. Auch die in einigen Landeskirchen im Widerspruch zur deutsch-christlichen Häresie gebildeten sog. Freien Synoden wurden von Bruderräten geleitet.
Der Begriff selbst nahm in gewisser Weise das ekklesiologische Konzept der Barmer Theologischen Erklärung von Ende Mai 1934 vorweg. Hier wurde Kirche als eine „Gemeinde von Brüdern“ bestimmt, deren Ordnung nicht „dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“ werden dürfe. Abgelehnt wurde damit sowohl die Übernahme des nationalsozialistischen Führerprinzips durch die Kirche als auch die bisherige, stark am Prinzip einer staatlichen Verwaltung orientierte Form von Kirchenleitung.
Der theologisch stets heterogen gebliebene und in seiner Haltung zum NS-Regime ambivalente Bruderrat der DEK entwickelte sich im Frühjahr 1934 aus einem Arbeitsausschuss von Vertretern der meisten Landeskirchen. Er sollte auf bayerische Initiative hin alle „bekenntnistreuen Kräfte“ zusammenfassen und die erste Bekenntnissynode der DEK in Barmen vorbereiten. Diese Synode bestellte ihn als Bruderrat der DEK und bevollmächtigte ihn, die „ihr gestellten Aufgaben durchzuführen und überhaupt für sie mit der Maßgabe zu handeln, daß in allen wichtigen Fragen die Entscheidung der Bekenntnissynode selbst eingeholt werden“ müsse.
Als Organ der Bekennenden Kirche stand der Reichsbruderrat unter ständigem polizeilichem Druck. Im Juni 1937 wurden die acht Mitglieder, die aus der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union stammten, aus einer Sitzung heraus verhaftet. Der Rückzug von Mitgliedern, die dem Lutherrat angehörten, brachte die Arbeit des Reichsbruderrats dann zum Erliegen.
Nach Kriegsende trat der Kreis erstmals im August 1945 unter dem Vorsitz von Martin Niemöller zusammen. Dieses Gremium begleitete die theologische und kirchliche Entwicklung der jungen Evangelischen Kirche in Deutschland kritisch – man legte u. a. einen eigenen Entwurf für deren Grundordnung vor. Nach der Verabschiedung der Grundordnung der EKD Ende 1948 verzichtete man auf kirchenleitende Ansprüche, nahm aber zu in Kirche und Gesellschaft relevanten Fragen wie der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Darmstädter Wort, 1947), der „Judenfrage“, der Flüchtlingsnot“ oder der Wiederaufrüstung West-Deutschlands prononciert Stellung. Diese letzte Stellungnahme trug mit zum Ende des Bruderrates in den 1950er Jahren bei, da politisch anders ausgerichtete Landeskirchenleitungen ihn nicht mehr länger mitfinanzieren wollten.
Trotz der großen Bedeutung im innerprotestantischen Kirchenkampf, in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Religionspolitik und in den Debatten um das Verständnis von Kirche sowie der gesellschaftlichen Rolle in den frühen Nachkriegsjahren ist die Arbeit des Reichs(-Bruderrates) bislang weder von der eher auf die Kirchenleitungen fixierten „klassischen“ Kirchenkampf-Forschung noch in jüngeren Studien beachtet worden. Außer wenigen knappen Lexikonartikeln liegen keine Untersuchungen zu diesen Gremien vor, obwohl der Reichsbruderrat in der von ad-hoc-Gremiengründungen geprägten Zeit der innerkirchlichen Streitigkeiten und trotz der staatlichen Repression eine bemerkenswert lange Lebenszeit hatte und zudem organisatorisch und personell den politischen Systemwechsel 1945 überdauerte.
Mit der kritischen Edition der Sitzungsprotokolle aus den Jahren 1945 bis 1949 kann erstmals die Arbeit eines sog. „linksprotestantischen“ Kreises auf einer gesicherten Quellenbasis beleuchtet werden. In dieser Gruppe wurde gegen vermeintliche und tatsächliche restaurative Tendenzen in der Kirche sowie in der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft mit der (Selbst-)Legitimation des früheren Widerspruchs gegen die NS-Kirchenpolitik und einem stark anti-westlichen Ressentiment gekämpft und zugleich ein neues ekklesiologisches Konzept vertreten.
Zugehörige Publikation in der AKiZ-Reihe AKiZ A:
A 23:
Die Protokolle der Sitzungen des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945–1949. Bearbeitet von Karl-Heinz Fix. Göttingen 2024.