Geschichte der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte

Seit ihrer Gründung hat sich die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte sowohl als ein Ort der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Themen der kirchlichen Zeitgeschichte als auch als ein Forum kirchlicher und theologischer Identitätsbildung in der öffentlichen Debatte behauptet.

1955 vom Rat der EKD als „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ berufen, kamen ihr damals zwei Aufgaben zu: Gesamtkirchlich eine Brücke zwischen Mitgliedern der „radikalen“ und „gemäßigten“ Bekennenden Kirche zu bilden und gleichzeitig durch die Sammlung von Aktenbeständen, den Aufbau einer Bibliothek und die Herausgabe der „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ eine erste, wissenschaftliche Basis für die Erforschung der Kirchenkampfzeit zu legen.

Schon bald jedoch erweiterte sich der zeitliche Forschungshorizont der Kommission auf die Zeit der Weimarer Republik und die Rolle des Protestantismus in der Bundesrepublik. Das führte 1971 zur Umbenennung in „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“. Mit diesem neuen Selbstverständnis veränderten sich in den 1970er und 80er Jahren Arbeitsweisen und Fragestellungen. Die Aufnahme von Allgemeinhistorikern ermöglichte nicht nur den Anschluss der Kirchlichen Zeitgeschichte an die inhaltlichen und methodischen Diskussionen der modernen Geschichtswissenschaft, sondern bekräftigte auch ihren Anspruch, interdisziplinär die konfessionellen Prägungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten.

Dass der Kirchlichen Zeitgeschichte auch eine wichtige öffentliche Relevanz zukommt, machte der Umbruch in der DDR 1989 und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 besonders deutlich. Welche politische, soziale und kirchliche Rolle der Protestantismus in der 40jährigen Geschichte der DDR gespielt hatte, interessierte nun auch eine breite Öffentlichkeit. In den Medien polarisierte sich die Deutung von evangelischer Kirche einerseits auf ihre Rolle als Trägerin einer „protestantischen Revolution“ und andererseits auf ihre angepasste SED-nahe Haltung, die ihr das Attribut einer „Kumpanei-Kirche“ einbrachte. Dass das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR allerdings sehr viel differenzierter wahrzunehmen ist als in der verengten Diskussion der Medienöffentlichkeit, machten die Ergebnisse mehrerer seit 1992 durchgeführter Forschungsprojekte der Arbeitsgemeinschaft deutlich.

In der Geschichte der Arbeitsgemeinschaft begann damit zugleich ein neuer Abschnitt: Anknüpfend an ihre über die Zeit des Kalten Krieges hin bewahrte besondere Gemeinschaft mit den Kirchen in der DDR arbeiteten nun auch wieder Kirchenhistoriker aus den ostdeutschen Bundesländern mit. Zusammen mit ihnen wagte die Arbeitsgemeinschaft mit dem Beginn des neuen Jahrtausends einen umfassenderen Blick auf evangelisches Glaubenszeugnis im vergangenen Jahrhundert und richtete im Jahr 2000 auf Anregung des Rates der EKD ein großes Forschungsprojekt zu den evangelischen Märtyrern des gesamten 20. Jahrhunderts ein.

Anlässlich ihres fünfzigsten Jubiläums eröffnete die Arbeitsgemeinschaft 2005 ein neues Forschungsfeld. Seither bildet die Beschäftigung mit den religiösen und gesellschaftlichen Wandlungen seit den 1960er Jahren ein Schwerpunkt der Arbeit. Zwischenzeitlich wird deutlich, welche tiefe Zäsur die 1960er Jahre in der Geschichte des Christentums national wie international bilden.

Medial innovativ zeigte sich die Arbeitsgemeinschaft im Jahr 2011, als mit der virtuellen Ausstellung "Widerstand!?" eine der ersten Online-Ausstellungen in der Bundesrepublik gestartet wurde. An ihr arbeiteten zahlreiche Fachleute aus allen Landeskirchen mit.

An der Gestalt des Protestantismus in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft mitzuwirken, bleibt auch im 21. Jahrhundert Herausforderung für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte.

Weiterführende Literatur

NICOLAISEN, Carsten: Zwischen Theologie und Geschichte. Zur kirchlichen Zeitgeschichte heute. In: Der Evangelische Erzieher 42, 1990, S. 410-419

MEHLHAUSEN, Joachim: Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und die Erforschung der Kirchengeschichte der DDR. In: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Mitteilungen 13, 1993, S. 1-6

SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Leonore: Probleme Kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. In: Die evangelischen Kirchen und der SED-Staat - ein Thema kirchlicher Zeitgeschichte (Arnoldshainer Texte. 77). Hg. von Leonore Siegele-Wenschkewitz. Frankfurt/M. 1993, S. 142-151

KAISER, Jochen-Christoph: Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der "Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit". In: Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Hg. von Anselm Doering-Manteuffel und Kurt Nowak (KoGe 8) Stuttgart u.a. 1996, S. 125-163.

Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Die Zeitschrift beschäftigt sich mit der Entwicklung des deutschen und internationalen Protestantismus im 20. Jahrhundert und somit mit der Genese der Gegenwart und ihren Herausforderungen. Sie enthält Aufsätze, Bibliographien, Forumsbeiträge, Projekt- und Tagungsberichte sowie Nachrichten über zeitgeschichtliche Aktivitäten in den Landeskirchen und andernorts.

Inhalt Heft 17 (2023)

Aufsätze

Trauer und Trotz. Religiöses Kriegsgedenken nach 1918
Tim Lorentzen

Die Kultur des Gegners als Kraft zum Widerstand in Zeiten des Krieges. Dem Kriegsdienstverweigerer Wilhelm Schümer im Gedenken an seinen 80. Todestag
Maike Schult

„Kein Hinderungsgrund für eine Anstellung“. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und der NS-Jurist Wilhelm von Ammon
Nora Andrea Schulze

Mit „mancherlei Fesseln“ in den „Deutungskämpfen der Erlebnisgeneration“. Die Deutschen Christen und die EKD-Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in den 1950er Jahren
Marvin Becker

Rassen- und Sozialhygieniker als Bindeglied der nichtkonfessionellen und evangelischen Eheberatung in der bundesdeutschen Nachkriegszeit
Vera-Maria Giehler

„Solche unverschämten Brüder brauchen wir nicht!“ – Ein Beitrag zum Typus des ‘68er Pastors am Beispiel von Michael Schmidt
Carsten Linden

Miszellen

Ein gefälschtes Dibelius-Zitat und seine Folgen
Michael Heymel

Forschungsberichte

Geistlich und rechtlich gleich. Gleichstellung von Theologinnen im Pfarrberuf der Evangelischen Kirche in  Hessen und Nassau und ihren Vorgängerkirchen 1918–1971
Jolanda Gräßel-Farnbauer

Lebensläufe zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine duale Biografie von Helmuth Schreiner und Karl Themel
Maurice Backschat

Ein Raum „alternativer Öffentlichkeit“? Das Theologische Seminar Leipzig (1964–1992)
Marius Stachowski

Belastendes Erbe – Ein Projekt der Evangelischen Kirche der Pfalz zur Erfassung, Einordnung und digitalen Präsentation problematischer materialer Relikte aus der Zeit des Deutschen Reichs (1870–1945)
Marie Fischer/Christoph Picker

Tagungsberichte

Otto Dibelius (1880–1967). Neue Forschungen zu einer protestantischen Jahrhundertfigur
Michael Heymel

Diakonie und Caritas in Ostdeutschland vor und nach 1990. Potentiale für Ost und West. Was ist anders (geblieben), was soll anders werden?
Bettina Westfeld 

Nachrichten
Nachrichten aus der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte
Nachrichten aus Kirchengeschichtlichen Vereinigungen

 


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Publikationsdatum dieser Seite: 2024-01-19