Erinnerung

>> 22. Februar 2023: Vor 80 Jahren wurden Hans und Sophie Scholl sowie ihr Freund Christoph Probst hingerichtet.

Im Juni und Juli 1942 tauchten in München vier Flugblätter der „Weißen Rose“ auf.
Verteilt wurden die jeweils etwa 100 Exemplare an einen kleinen Kreis ausgesuchter
Adressaten, zumeist an Akademiker aus München und Umgebung. Die Texte riefen mit
idealistischem Pathos, zahlreichen Klassikerzitaten und christlich-moralischen Appellen
zum passiven Widerstand gegen den verbrecherischen Krieg des NS-Regimes auf. Im
Januar 1943 kam ein fünftes Flugblatt in einer Auflage von 6.000 bis 9.000 in mehreren
Städten Süddeutschlands und in Österreich in Umlauf.
Den Kern des nicht organisierten Freundeskreises der „Weißen Rose“ bildeten fünf
Studenten: Hans und Sophie Scholl, Willi Graf, Christoph Probst und Alexander
Schmorell. Ihr Mentor war Professor Kurt Huber, der als ihr akademischer Lehrer den
Grund für ihre oppositionelle Haltung gelegt hatte. Ferner gehörten zur „Weißen Rose“
noch etwa ein Dutzend Studenten, Intellektuelle und Künstler.
Sophie und Hans Scholl wuchsen in einem - religiös wie politisch - liberalen
protestantischen Elternhaus auf. Auch die anderen Mitglieder der „Weißen Rose“ waren
christlich-humanistisch geprägt. Aus der bündischen Jugendbewegung bezogen sie
hingegen ihren moralischen Rigorismus. Im Sommer 1942 erlebten Willi Graf, Alexander
Schmorell und Hans Scholl in einer Studentenkompanie an der Ostfront die Sinnlosigkeit
und Grausamkeit des Krieges. Diese Erfahrung bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit,
nach ihrer Rückkehr im November 1942 Widerstand durch politische Aufklärung der
Öffentlichkeit zu leisten.
Ab Februar 1943 beschriftete die Gruppe nachts Gebäude in München mit Parolen wie
Nieder mit Hitler, Freiheit oder Hitler Massenmörder. Im Februar entstand auch das sechste
Flugblatt der Gruppe, das sich an die Münchner Studierenden wandte. Mit Bezug auf die
Katastrophe von Stalingrad wurden diese aufgefordert, sich vom nationalsozialistischen
System zu befreien.
Die beiden letzten Flugblätter der „Weißen Rose“ verwiesen in eher prosaischer
Sprache und politisch unmissverständlich auf die aussichtslose Kriegslage und riefen
zum aktiven Kampf gegen das NS-Regime auf, dessen Verbrechen sie beim Namen
nannten. Auch enthielten sie gesellschaftliche und politische Zielvorstellungen: ein
föderalistisches Deutschland, ein einiges friedliches Europa, einen vernünftigen
Sozialismus, eine freie Weltwirtschaft, individuelle Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Beim Verteilen von Flugblättern im Lichthof der Münchener Universität wurden die
Geschwister Scholl am 18. Februar 1943 vom Hausmeister beobachtet und
anschließend verhaftet. Vier Tage später wurden sie und Christoph Probst vom
Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Die Urteile wurden noch am selben Tag
vollstreckt. Im April 1943 wurden Willi Graf, Kurt Huber und Alexander Schmorell zum
Tode verurteilt, elf andere Angeklagte zu Haftstrafen.
Im Frühjahr 1943 warf die Royal Air Force das letzte Flugblatt der „Weißen Rose“ als
Manifest der Münchner Studenten hunderttausendfach über Deutschland ab. Das Flugblatt
war zuvor der britischen Regierung von Graf von Moltke über Schweden und den Osloer
Bischof Berggrav zugespielt worden.

 

>> Bemühen um Deeskalation - Vor 60 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut

 

Mit dem Bau der Berliner Mauer waren die Kommunikations- und Informationswege zwischen den beiden deutschen Teilstaaten weitgehend abgeschnitten. Dies hatte für die Bevölkerung der DDR nicht allein praktische, sondern auch psychische Auswirkungen. Es entstand das Gefühl des Eingesperrtseins, des Ausgeliefertseins gegenüber dem - nach dem Mauerbau vorübergehend zunehmenden - politischen Druck sowie die Überzeugung, dass das ostdeutsche Provisorium von Dauer und man sich im Osten selbst überlassen sein würde. Als eine Folge dieser Bewusstseinslage registrierten Kirchenvertreter in den ersten Wochen nach dem 13. August 1961 in der DDR eine vorübergehende Zunahme von Kirchlichkeit. Sowohl die Besuche von Gottesdiensten und übergemeindlichen Veranstaltungen als auch die Anmeldungen zur Konfirmation und die seelsorgerliche Inanspruchnahme der Pfarrer stiegen sichtbar an. Auch die Studentengemeinden in der DDR verzeichneten einen erhöhten Zulauf.
Die evangelische Kirche versuchte in der Zeit unmittelbar nach dem Mauerbau vor allem deeskalierend auf die aufgebrachte Berliner Bevölkerung einzuwirken. Kurt Scharf und Otto Dibelius bemühten sich am 14. August, mit einem seelsorgerlich gehaltenen Aufruf die angespannte Stimmung zu beruhigen. In dem von den Kanzeln des Kirchengebietes Berlin-Brandenburg verlesenen Hirtenbrief unterließen sie es, die politischen Ereignisse zu analysieren oder zu bewerten. Stattdessen riefen sie zu Besonnenheit und Einheit im Glauben auf: „Im Namen Jesu Christi soll verbunden bleiben, was er zusammengefügt hat. Wir bleiben Brüder, auch wenn man es uns schwer macht, beieinander zu sein. Laßt uns reicher werden an Liebe und erfinderisch an Mitteln und Wegen, einander diese Liebe zu zeigen!“. Drei Tage später unterzeichnete Scharf ein Telegramm an den Staatsratsvorsitzenden und den Ost-Berliner Oberbürgermeister. Auch darin unterblieb Kritik an der politischen Situation. Man konzentrierte sich auf die humanitären Auswirkungen des Mauerbaus und bat zur Beruhigung der Bevölkerung um die „großzügige Gewährung von Passierscheinen, Reisebescheinigungen und Aufenthaltsgenehmigungen“. Wegen dieses Telegramms wurden Scharf sowie die drei weiteren Unterzeichner – der Vorsitzende der Kirchlichen Ostkonferenz Krummacher, der Berliner Generalsuperintendent Führ und der Präses der Synode von Berlin-Brandenburg Fritz Figur – von Staatsvertretern in persönlichen Gesprächen scharf gerügt. Doch nur Scharf hatte noch sehr viel weitreichendere Konsequenzen zu tragen. Auf Weisung des Politbüros wurde ihm am 31. August die Rückreise zu seinem Dienstsitz in Ost-Berlin verweigert und der DDR-Personalausweis abgenommen.
 


>> Vor dreißig Jahren, am 27. Juni 1991, wurden aus 16 Mitgliedskirchen 24 Mitgliedskirchen der EKD

 

Claudia Lepp

Von der „besonderen Gemeinschaft“ zur gesamtdeutschen Kirche. Wie die ost- und westdeutschen Kirchen 1990/91 zusammenfanden

 

Im Jahr 1990 standen die deutschen Protestanten nach 1948, dem offiziellen Gründungsjahr der Evangelischen Kirche in Deutschland, und 1969, als sich der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR formierte, ein weiteres Mal vor der Frage nach dem Verhältnis von Staats- und Kirchengrenzen.

Die meisten der kirchlichen Stimmen in Ost und West äußerten sich im November und Dezember 1989 zurückhaltend und abwartend zu der Möglichkeit einer deutschen Vereinigung. Einige ostdeutsche Kirchenvertreter unterzeichneten den Appell „Für unser Land“ vom 26. November, der klar für eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik plädierte. In einer Presseerklärung rief der Bund am 7. Dezember zu Dankbarkeit über die „neuen guten Möglichkeiten der Gemeinsamkeit“ auf und warnte zugleich vor „nationaler Euphorie“. Die Mitte Januar 1990 in Loccum versammelten Vertreter von Bund und EKD, die auf einer bereits länger geplanten Klausurtagung über die seit 1969 gepflegte „besondere Gemeinschaft“ der evangelischen Christen in Deutschland reflektierten, wollten jedoch beides überwunden sehen: die kirchliche wie die staatliche Trennung. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen, das man in der Zeit der Teilung gepflegt habe, sei für die Kirchen eine wichtige Grundlage ihres gemeinsamen Wirkens, so erklärten die Kirchenvertreter. Die Vereinigung beider Kirchen solle „zügig“ vorangehen; gegebenenfalls solle es bereits eine gemeinsame Kirche bei noch fortdauernder staatlicher Trennung geben. „Mit den während der Zeit der Trennung gewachsenen Erfahrungen und Unterschieden“, hieß es, „wollen wir sorgsam umgehen.“

Waren mit dieser einstimmig verabschiedeten Erklärung die Weichen Richtung Einheit gestellt? Noch am 23. November hatte der EKD-Ratsvorsitzende und West-Berliner Bischof Martin Kruse betont, die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und der DDR könnten nach Öffnung der Grenzen ihre „Nähe und Eigenverantwortlichkeit in eine neue Beziehung zueinander“ bringen; dafür seien jedoch „keinerlei Vereinigungskonzeptionen erforderlich“. Nun hatte Kruse zusammen mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR Werner Leich die Loccumer Klausurtagung geleitet. Für ihr doppeltes Einheitspostulat zwei Monate nach der Maueröffnung erfuhr die für viele überraschende „Loccumer Erklärung“  viel Zustimmung. Sie stieß aber ebenso auf manche skeptische Zurückhaltung etwa auf Seiten der Bundessynode; man wolle sich Zeit lassen, hieß es in deren Entschließung. Und auch an scharfer Kritik fehlte es nicht, sowohl hinsichtlich des Ziels einer Wiedervereinigung als auch der als undemokratisch attackierten Verfahrensweise. In der „Berliner Erklärung“  plädierten am 9. Februar prominente Protestanten aus Ost und West dafür, dass sich die über die Ost-West-Spaltung hinwegreichende „besondere Gemeinschaft“ der evangelischen Kirchen im stellvertretenden Aushalten der noch bestehenden Trennungen um des Zusammenwachsens Europas in Frieden und Gerechtigkeit willen bewähren solle. Die Theologen sprachen sich auch gegen eine schnelle politische und wirtschaftliche Vereinigung Deutschlands aus. Wieder einmal wurden innerprotestantische Gegensätze mobilisiert, die sich nicht mit der Ost-West-Teilung deckten. Auf den gesellschaftlichen Diskurs konnten sie jedoch keinen bestimmenden Einfluss mehr nehmen.

Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 GG kam es zur deutschen Wiedervereinigung in einem demokratisch legitimierten nationalen Staat, auch wenn sie einigen Protestanten zu schnell erfolgte. Sachlich motivierte Bedenken oder antinationale Vorbehalte erwiesen sich als unzeitgemäß in einer Phase des völligen Umbruchs, des Drängens der ostdeutschen Bevölkerung nach rascher Einheit und der im Hinblick auf internationale Rahmenbedingungen schnell erforderlichen Grundentscheidungen. Indes hielten die kritischen Anfragen einiger ostdeutscher Kirchenrepräsentanten an die liberale Demokratie westeuropäischer Prägung und der mit ihr verbundenen Wirtschaftsform und Lebensformen über den 3. Oktober 1990 hinaus an.

Im Herbst 1990 wurde faktisch die Herstellung der kirchlichen Einheit von der staatlichen Wiedervereinigung überholt. Ende Mai 1990 hatte eine Gemeinsame Kommission von EKD und BEK, deren Einrichtung schon in der Loccumer Erklärung empfohlen worden war, ihre Arbeit aufgenommen. Sie sollte gemeinsame Aufgaben benennen und Vorschläge für weitere Schritte der Zusammenführung formulieren. Als Abschlusstermin für den Vereinigungsprozess nannte sie das Jahr 1993. Man wollte sich ausreichend Zeit lassen.

In den Folgemonaten gab es intensive innerkirchliche Diskussionen, in denen die Sorgen und Ängste der ostdeutschen Kirchen vor westlicher Vereinnahmung und Verlust von gewachsener Identität eine wichtige Rolle spielten. Strittige Themen waren vor allem die Wiedereinführung des Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und des staatlichen Kirchensteuereinzugs, die Übernahme des Militärseelsorgevertrags sowie grundsätzlich die Rolle der Kirche in Staat und Gesellschaft. Während der Religionsunterricht und der staatlichen Kirchensteuereinzug von den östlichen Landeskirchen schließlich übernommen wurden, führte die Neuregelung der Militärseelsorge zu heftigen Auseinandersetzungen. Ostdeutsche Kirchenvertreter hielten den Umstand, dass Militärgeistliche Staatsbeamte waren, für inakzeptabel. Daher wurde in Verhandlungen mit dem Staat eine Übergangslösung für die Soldatenseelsorge in den neuen Bundesländern gefunden, die bis Ende 2003 galt. Seit Anfang 2004 ist der Militärseelsorgevertrag auch in den neuen Bundesländern in Kraft.

Dem Wunsch nach einer neuen gemeinsamen Kirchenverfassung oder zumindest größeren Verfassungsänderungen, wie ihn vornehmlich ostdeutsche Kirchenvertreter äußerten, hielten EKD-Repräsentanten im Jahr 1990 die Bedenken entgegen, dass in diesem Fall sämtliche ost- und auch westdeutschen Gliedkirchen einzeln darüber abstimmen müssten. Nach der gescheiterten EKD-Reform von 1976 wollte man im Westen eine neue Grundordnungsdiskussion vermeiden. Dieser Weg schien zu unsicher und würde auf jeden Fall lange dauern. Die vielfältigen Aufgaben, welche sich aus der am 3. Oktober 1990 vollzogenen staatlichen Einheit für die evangelischen Kirchen ergaben, legten es aber nahe, möglichst bald zu einer handlungsfähigen einheitlichen Institution zu kommen. Hinzu kam die schwierige Finanz- und Personalsituation der ostdeutschen Kirchen.

Ende August 1990 empfahl dann die ostdeutsche Konferenz der Kirchenleitungen eine „zügige Herstellung der Mitgliedschaft der Gliedkirchen des Bundes in der EKD.“ Am 12. September gab die Gemeinsame Kommission die Empfehlung, dass beide Synoden auf einer gemeinsamen Tagung im Mai 1991 alle für die kirchliche Einheit erforderlichen Entscheidungen treffen sollten. Zwei Tage später sprach sich der bereits im Juni gebildete Gemeinsame Leitungsausschuss von EKD und BEK dafür aus, dass die Einheit der beiden deutschen Kirchen im Laufe des Jahres 1991 dergestalt zustande kommen sollte, dass die ostdeutschen Gliedkirchen Mitglieder der EKD würden. Die Bundessynode stimmte im September trotz kritischer Stimmen dem Vereinigungsplan zu.  Auf der EKD-Synode im November in Travemünde wurde dann unter Einbeziehung ostdeutscher Kirchenvertreter noch einmal sehr kontrovers über den Weg zur Kirchenvereinigung diskutiert. Nach dem Willen der Gemeinsamen Kommission sollten beide Synoden erst im Mai 1991 die Einheit beschließen und im November die neugewählte gesamtdeutsche EKD-Synode zusammentreten. Dagegen wollte der Rechtsausschuss der Synode einen schnellen Beitritt der acht östlichen Landeskirchen, deren Mitgliedschaft in der EKD nach Ansicht der Juristen seit der erzwungenen Trennung 1969 ledig geruht habe und nun durch deren Erklärung reaktiviert werden könne. Somit sei eine schnelle Vereinigung der Kirchen in der Rechtskontinuität zur bestehenden Verfassungslage möglich. Vor allem Vertreter des ostdeutschen Kirchenbundes aber wollten den Kirchenzusammenschluss mit inhaltlichen Fragen verbinden, damit ihre besonderen Erfahrungen in einer neuen EKD Berücksichtigung fänden. Schließlich wurde ein Kompromiss für den Kirchenzusammenschluss gefunden: Der Synodenbeschluss berücksichtigte die Wünsche des Kirchenbundes nach einer engeren Form der Kirchengemeinschaft. So sollte die Grundordnung geändert und die EKD künftig nicht mehr nur ein lockerer „Bund“ von Kirchen, sondern eine „Gemeinschaft“ sein. Durch die Einberufung von insgesamt drei Synodaltagungen 1991 wurde die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Synode am Prozess der Vereinigung berücksichtigt.

Juristisch vorbereitet wurde die Wiedervereinigung der östlichen und der westlichen Gliedkirchen der EKD mit der Verabschiedung von zwei Kirchengesetzen, welche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Kircheneinheit regelten, durch die beiden Synoden von BEK und EKD. Sie tagten in Berlin am 22. und 23. Februar 1991 zunächst parallel in Spandau und Weißensee, dann am 24. Februar gemeinsam in Spandau, stimmten dort aber getrennt ab. Mit diesem Vorgehen sollte der Partnerschaft beim Vollzug der Vereinigung Ausdruck gegeben werden. Dennoch war die Stimmung auf der Bundessynode in Berlin-Weißensee von massiver Kritik an Tempo und Verlauf des Vereinigungsprozesses geprägt; es wurde von „Anschluss“ gesprochen. Schon kurz vor der Synode hatte Präses Rosemarie Cynkiewicz erklärt, bei den Verhandlungen über die Vereinigung hätte bei den westlichen Kirchen zu keiner Zeit Interesse an einer Reform bestanden. Der Präses der EKD-Synode Jürgen Schmude versicherte, die organisatorische Einheit verbessere für die ostdeutschen Kirchen die Möglichkeiten, ihre Erfahrungen einzubringen.

Im Laufe der Monate März und April gaben die Landessynoden der östlichen Gliedkirchen ihre Zustimmung zu dem Vereinigungsgesetz, das am 27. Juni 1991 und damit 17 Monate nach der Loccumer Erklärung schließlich in Kraft trat. Bei der anschließenden EKD-Synode in Coburg wurde die kirchliche Vereinigung der acht ostdeutschen mit den 16 westdeutschen Landeskirchen in der EKD bewusst nicht sonderlich zelebriert. Zwischen den 120 westdeutschen und 40 ostdeutschen Synodalen sei kein „Graben“ zu spüren gewesen, so lautete die optimistische Bilanz des alten und neuen Präses Jürgen Schmude über die Beratungen der neuen gesamtdeutschen Synode.

Dass äußere aber noch nicht innere Einheit bedeutete, ja nach Jahren der Trennung nicht bedeuten konnte, zeigte sich während des institutionellen Vereinigungsprozesses, aber auch noch danach. Zusätzlich belastet wurde die innerkirchliche Vereinigung und gesamtkirchliche Selbstverständigung durch die im Kern notwendige öffentliche Auseinandersetzung um „Stasiverstrickung“ und „Kumpanei“ zwischen Kirchen und SED-Staat. Im binnenkirchlichen Raum wirkte der Streit um die „Schuld“ der Kirchen in der DDR quer zur Ost-West-Linie sowohl spaltend als auch solidarisierend.  Aber auch jenseits und nach der „Stasidebatte“ gestaltet sich das kirchliche „Zusammenwachsen“ nicht einfach. Die gemeinsame, in Jahrhunderten ausgeformte konfessionelle Kultur hatte sich in den unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Kontexten zum Teil in verschiedener Weise weiterentwickelt. Erst nach 1990 ließ sich das Ausmaß der Unterschiede der kirchlichen Situation, des Selbstverständnisses sowie der politischen Ethik erkennen. Insbesondere hinsichtlich des Staat-Kirche-Verhältnisses und des Gesellschaftsbildes gab es gravierende Unterschiede. Das trotzdem noch Gemeinsame etwa in agendarischen Formen und Gottesdienstpraxis, kirchlicher Kunst, Musik und Architektur geriet dabei manchmal teils ungewollt, teils in der Auseinandersetzung um ekklesiologische Modelle (deprivilegierte Minderheitenkirche versus Volkskirche) vielleicht auch gewollt etwas aus dem Blick. Das „Zusammenwachsen“ bedurfte jedoch beider Perspektiven: des Blickes für das Gemeinsame wie für das noch Trennende.

25 Jahre nach der Vereinigung ist der innere Einigungsprozess - auch angesichts neuer gemeinsamer Herausforderungen - bereits weit vorangekommen.
[Vgl. Claudia Lepp:
Kritik am Tempo. Die deutsch-deutsche Vereinigung der evangelischen Kirche. In: Zeitzeichen 17, 2016, S. 24-26.]
 


>> 19. Oktober 2020: 75 Jahre Stuttgarter Schulderklärung



Quelle: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 2 Nr. 1790

Der Anstoß zu diesem frühen Bekenntnis kirchlicher Mitverantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes kam von der Ökumenischen Bewegung. Es sollte die Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Gemeinschaft mit den deutschen Kirchen sein, die bald auch in Form massiver ideeller und materieller Hilfe erfolgte. Die vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 19. Oktober 1945 in Stuttgart vor Ökumenevertretern abgegebene Erklärung war als Bitte an die Christenheit um Vergebung vor Gott und um Wiederherstellung zerstörter Gemeinschaft abgefasst. In dem maßgeblich von Hans Asmussen und Otto Dibelius formulierten Text bekannte sich die Kirche zur „Solidarität der Schuld“ mit dem deutschen Volk: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Bezüglich der Form der Schuld war der Text aber wenig konkret. In traditioneller  Frömmigkeitssprache hieß es: „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Die Wurzel der Schuld sah der Rat demnach in der Schwäche des Glaubens der Kirche und des einzelnen Christen. Um Schuld nicht mit Gegenschuld aufzurechnen, schwieg die Erklärung zu den Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Gemeinsam mit der Ökumene wollte man „dem Geist der Gewalt und der Vergeltung“ wehren, damit „der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme.“

Kaum veröffentlicht wurde über die Erklärung heftig gestritten. Die Auseinandersetzung drehte sich vor allem um die angebliche Anerkennung einer deutschen „Kollektivschuld“ sowie um das Eingeständnis von Schuld allein durch die Deutschen und nicht auch durch die Siegermächte. In den Diskussionen wurde deutlich, dass die in Stuttgart formulierten Einsichten, sofern sie in der Not der Nachkriegszeit überhaupt wahrgenommen wurden, nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit verankert waren. Die Ablehnung überwog. Auch Kirchenleitungen und einzelne Unterzeichner rückten von ihr ab. Heute aber gilt die Stuttgarter Schulderklärung als bedeutendstes Dokument des Nachkriegsprotestantismus.

Literaturtipps:

G. Besier/G. Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Schulderklärung 1945, 1985.

Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, hg. von M. Greschat, 1982.

Im Zeichen der Schuld. 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis. Eine Dokumentation, hg. von M. Greschat, 1985.


Interview mit Siegfried Hermle im SWR 2

Interview mit Claudia Lepp im BR 2
Interview mit Harry Oelke in ekd news

 


>> 3. Oktober 2020: 30 Jahre Wiedervereinigung

    
 

Berlin, Demonstration gegen Wiedervereinigung, 19.12.89 (Bundesarchiv, Bild 183-1989-1219-036 / CC-BY-SA 3.0) / Bonn, Sitzung Bundesrat, Wiedervereinigung, 27.9.1990 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F085771-0012 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0)


Der Weg zur Wiedervereinigung

Seit dem 14. November 1989 begegneten auf den zahlreichen Demonstrationen immer häufiger die Forderungen nach einer Wiedervereinigung.  Die meisten kirchlichen Stimmen in Ost und West äußerten sich jedoch im November und Dezember zurückhaltend und abwartend zu der Möglichkeit einer staatlichen Vereinigung. Einige ostdeutsche Kirchenvertreter unterzeichneten den Appell „Für unsere Land“ vom 26. November 1989, der klar für eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik plädierte.

Die im Januar 1990 in Loccum versammelten Vertreter von Bund und EKD jedoch wollten beides überwunden sehen, die staatliche wie die kirchliche Trennung. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen, das man in der Zeit der Teilung gepflegt habe, sei für die Kirchen eine wichtige Grundlage ihres gemeinsamen Wirkens, so erklärten die Kirchenvertreter. Für ihr doppeltes Einheitspostulat erfuhr die „Loccumer Erklärung“ viel Zustimmung. Es fehlte indes auch nicht an scharfer Kritik, sowohl hinsichtlich des Ziels einer Wiedervereinigung als auch der als undemokratisch attackierten Verfahrensweise. In der „Berliner Erklärung“ plädierten prominente Protestanten aus Ost und West dafür, dass sich die über die Ost-West-Spaltung hinwegreichende besondere Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen im stellvertretenden Aushalten der noch bestehenden Trennungen um des Zusammenwachsens Europas in Frieden und Gerechtigkeit willen bewähren solle. Wieder einmal wurden innerprotestantische Gegensätze mobilisiert, die sich nicht mit der Ost-West-Teilung deckten.

Doch die staatliche Einheit kam, auch wenn sie vielen Protestanten zu schnell erfolgte. Sachlich motiviertes Bedenken und Zögern erwiesen sich als unzeitgemäß in einer Zeit des völligen Umbruchs, des Drängens der Bevölkerung nach rascher Einheit und der schnell erforderlichen Grundentscheidungen.

[Aus: Claudia Lepp: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: Claudia Lepp / Kurt Nowak (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1949–1989). Göttingen 2001, S. 46–93.]

 

Forum

Wie verhielten sich evangelische Kirche und evangelische Christ*innen in den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung?

Im Folgenden werden die Überlegungen von acht Frauen und Männern aus Ost- und Westdeutschland abgedruckt, die selbst Zeitzeug*innen dieser Ereignisse aus der Nähe oder Ferne waren und sich überdies wissenschaftlich mit dem Protestantismus in der DDR beschäftigt haben.

 

Hagen Findeis

In der Spätphase des Umbruchs fungierten Kirchenvertreter oft als Moderatoren zwischen Staatsmacht und neuen Bürgerbewegungen an den landesweit entstandenen Runden Tischen. Nicht selten wirkten Kirchenleute auch protestverstärkend, indem sie sich zu Sprechern der von den Bürgern vorgebrachten Forderungen machten; bis dahin, dass sie selbst politische Ämter übernahmen. Aber, so vielfältig die kirchlichen Bezüge auf den Gang der Ereignisse im Einzelnen auch gewesen sein mögen, für den Erfolg des politischen Umbruchs entscheidend waren die Kirchen nicht. Für eine den Umbruch tragende Rolle fehlte ihnen die erforderliche Mobilisierungsfähigkeit und von der Bevölkerung geteilte inhaltliche Vorstellungen.

Die Wiedervereinigung der Landeskirchen und die Debatten, die in Ost und West in diesem Zusammenhang geführt wurden, weisen ähnliche Strukturmuster auf wie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. In der Debatte um die staatliche Vereinigung hatten führende ostdeutsche Kirchenvertreter für eine gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion nach Art. 146 GG plädiert. Der dann vollzogene Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG wurde von ihnen häufig als suboptimal abgelehnt. Analog vollzogen sich die Debatten um die Vereinigung der ost- und westdeutschen Landeskirchen innerhalb der EKD. Anstelle einer bloßen Revitalisierung der Mitgliedschaft der Landeskirchen hatten ostdeutsche Kirchenvertreter zunächst für eine gemeinsame neue EKD-Verfassung geworben und einen Neubeginn auf Augenhöhe zwischen Ost und West angestrebt. Jedoch zeigte sich ein beträchtlicher Unterschied zwischen den westdeutschen Akteuren und ihren östlichen Partnern. Während im Westen alles beim Alten bleiben sollte, wollte man im Osten die Einheit durch einen gesamtdeutschen Wandel erreichen. Realpolitische Kontextfaktoren wie das Drängen der DDR-Bevölkerung auf eine schnelle staatliche Vereinigung, die Ungewissheit internationaler Rahmenbedingungen, vor allem aber die ökonomische Zwangslage der DDR und der ostdeutschen Landeskirchen hinderten ostdeutsche Kirchenleute nicht daran, die organisatorische Vereinigung mit einer Reihe inhaltlicher Forderungen zu verknüpfen, für deren Durchsetzung ihnen die nötigen Sanktionsmittel von vornherein fehlten.

Die übergreifende Frage, die sich aus den kontroversen Positionen ostdeutscher Kirchenvertreter zu staatlich garantiertem Religionsunterricht und Kirchensteuereinzug, besonders aber zum Militärseelsorgevertrag und zum Besoldungssystem der westdeutschen Landeskirchen ergab, lautete, wie nah die Verbindung der Kirche zum Staat sein dürfe bzw. sein solle. Es zeigte sich, dass trotz einer über Jahrhunderte gewachsenen protestantischen Kultur verschiedene gesellschaftliche Rahmenbedingungen auch zu Differenzen im kirchlichen Selbstverständnis und in einer Reihe sozialethischer Fragen geführt haben. Ganz besonders wurde die innerkirchliche ebenso wie die gesamtgesellschaftliche Verständigung durch die öffentliche Debatte über die Stasi-Kontakte ostdeutscher Kirchenvertreter erschwert. Die Diskussion um die angebliche Kumpanei der ostdeutschen Kirchen mit dem SED-Staat verlieh der Frage nach ihrer erlaubten oder gar gebotenen Nähe zum Staat eine ganz eigene Note.

 

Klaus Fitschen

Die Pfarrerschaft kam für eine kurze Zeit in eine herausgehobene, öffentliche Position. Manche wurden politisch aktiv, und das in der ganzen Breite des damals bestehenden politischen Spektrums, einige davon aber nicht lange. Die Kirche war als Organisation gefragt, und sie verstand sich eher moderierend als (mit)gestaltend. Symbolisch standen dafür die Runden Tische. Aber: Niemand konnte absehen, wo die Herausforderungen wirklich lagen. An der Frage der Wieder-vereinigung zeigte sich schon bald, dass es innerhalb der evangelischen Kirche einen tief verankerten Konflikt gab und viele nicht sehen wollten, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Zerstörung der DDR schon so weit fortgeschritten war, dass es keinen ‚Dritten (Aus-)Weg‘ gab. Dies hatte dann auch Auswirkungen auf die kirchliche Wiedervereinigung in Form einer erneuerten gesamtdeutschen EKD. Die Kirchensteuer, der Religionsunterricht und die Seelsorge an Soldaten schienen manchen Indikatoren für eine westdeutsche Übernahme zu sein, während andere daraus folgende neue Spiel- und Handlungsräume erkennen konnten.

 

Christian Halbrock

Das Jahr 1990 ist nicht nur als eine Zeit des Aufbruchs zu sehen, sondern auch als eine Zeit der Irritation. Menschen und Gruppen, die sich vordem in der Kirche hörbar engagierten und angesichts ihres Engagements und Mutes in der Diktatur Ansehen und Autorität besaßen, sahen sich mit einer politischen Entwicklung konfrontiert, in der sie kaum noch eine Rolle spielten. Andere wurden quasi über Nacht zu Politikern – unter ihnen der in der bisherigen Bundesrepublik bislang kaum bekannte Typus des Herrn „Pfarrer Politiker“. Der Vielfalt der vordem schon bestehenden Meinungen entsprechend verhielten sie sich unterschiedlich und vertraten unterschiedliche Positionen. Ob sie sich nun in ihrer neuen Rolle vornehmlich als Christen oder Politiker oder beides zusammen begriffen, müssen die Betreffenden selbst beantworten. Andere – auch solche, die dem Engagement der politischen Gruppen innerhalb der Kirche vordem kritisch bis ablehnend gegenüberstanden oder andere, die in der DDR-Gesellschaft als Christen nicht erkennbar sein wollten, fanden sich ebenfalls in politischen Positionen wieder. Manch einer von ihnen betonte nun, wie wichtig ihm das Christsein und das politische Engagement der Kirchen stets gewesen waren. Oder sie taten so, als gehörten sie seit jeher wie selbstverständlich zur kritischen Masse dazu. Sie schienen ihren Bedeutungs- und Machtzuwachs kaum selbst begreifen zu können.

Während sich einige weiter an einer von der Kirche geprägten Verantwortungsethik orientierten und darauf insistierten, dass die Ostdeutschen erhobenen Hauptes in die Wiedervereinigung gehen und auf eigenen Positionen bestehen sollten, zeigten sich andere empfänglich für Angebote etablierter Strukturen und Parteien, die ihnen eine Perspektive in der neuen Zeit versprachen. Sie stimmten meist dem, was man von ihnen erwartete, zu und entfernten sich von den in kritischer Distanz Verbliebenen.

Nicht zu vergessen ist das kaum bekannte Engagement von Pfarrern und Gemeinden, das es sowohl in Ost als auch in West gab, und das darauf abzielte, sich aus christlicher Verantwortung solidarisch mit jenen zu zeigen, denen es nicht so gut wie den Ostdeutschen ging. An verschiedenen Orten wurden Sammlungen und Hilfstransporte ins Baltikum und nach Südosteuropa durchgeführt. Die Hilfsaktionen für Menschen, Hospitäler und Altersheime liefen oft jahrelang. Hinter dem Engagement stand auch der in den Kirchen der DDR wachgehaltene Gedanke, sich als Teil einer größeren Schicksalsgemeinschaft zu sehen. Nun wurde daraus der Imperativ, über den neuen Wohlstand nicht die Verantwortung zu vergessen, mit anderen zu teilen.

 

Michael Haspel

Unbestritten ist die wichtige Rolle der institutionell verfassten Kirche, Ressourcen, Infrastruktur und vor allem Menschen mit Expertise für vielfältige Transformationsprozesse der Macht, wie die Runden Tische, zur Verfügung gestellt zu haben. Wichtig bleiben die mutigen Aktionen gegen die Stasi und für die Erhaltung der Akten, bei denen gerade in der Provinz evangelische Christ*innen wesentlich beteiligt waren. Darüber hinaus wurden an vielen Orten Gruppen gegründet, die sich der gesellschaftlichen Probleme annahmen – von Bildung über Wirtschaft bis Umwelt. Das Umwelt-Thema war durch die Braunkohle präsent und ist so aktuell wie ehedem.

Allerdings sehe ich heute im Abstand von 30 Jahren ein Bild klarer als z. B. in meinen eigenen Abhandlungen der 1990er Jahre. Vor allem am zentralen Runden Tisch versuchten die SED und Blockparteien gemeinsam mit den Vertreter*innen der oppositionellen Gruppen unter Moderation und Beteiligung von kirchlichen Akteur*innen, die DDR zu reformieren – und damit letztlich zu retten, während die große Mehrheit der Bevölkerung schon für schnelle Währungsunion und Wiedervereinigung optierte. Politisch ein ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘, wirtschaftlich ein ‚dritter Weg‘ zwischen Plan- und Marktwirtschaft, so könnte man grob die Grundorientierung beschreiben, die viele evangelische Akteur*innen teilten. Dabei war seit dem Schürer-Bericht im Oktober 1989 auch der SED-Führung klar, dass die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stand.

Allerdings kommt den Runden Tischen das große Verdienst zu, eine geordnete Übergabe der Macht von der kommunistischen Diktatur an eine demokratisch gewählte Regierung und die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens ermöglicht zu haben. Es war aber wohl schon damals eine falsche Einschätzung, die inhaltlichen Anliegen der oppositionellen Gruppen, die sich immer stärker ausdifferenzierten, würden von einer Mehrheit in der Bevölkerung geteilt. Die Wahlen 1990 zeigten die realen Verhältnisse. Mir scheint, dass diese Diskrepanz zwischen einer kleinen engagierten und auch verdienstvollen Opposition und der Mehrheit der Bevölkerung bis heute von vielen Akteur*innen analytisch nicht nachvollzogen wird. Es bleibt das diffuse Gefühl, als sei einem die Revolution gestohlen worden. Oft wird bis heute die Ursache dafür nicht in der Entscheidung der Mehrheit, sondern im Handeln der ‚West-Parteien‘ oder der ‚West-Kirchen‘ gesehen.

Die besondere Rolle der Kirche im Transformationsprozess ist mit der Gründung politischer Parteien und der Einführung der repräsentativen Demokratie an ihr Ende gekommen. Überproportional viele Christ*innen haben sich in diesen Prozess eingebracht. Das ist ein wichtiges Erbe des Herbstes 1989: Dass Christ*innen sich für Demokratie und Rechtsstaat engagieren.

 

Katharina Kunter

Man kann diese Frage nicht ohne Berücksichtigung des 9. Oktobers 1989 beantworten, als sich in Leipzig 70.000 Demonstranten und 8.000 schwerbewaffnete SED-Sicherheitskräfte gegenüberstanden und schließlich ein Blutbad nach chinesischem Muster verhindert wurde. Die Erfahrung, Ohnmacht kollektiv und friedlich überwinden zu können, setzte neue politische Kräfte frei. Zahlreiche evangelische Christen trieben nun außerhalb der Kirche innergesellschaftliche Reformen und die Demokratisierung der DDR voran. Die deutsche Frage war dabei zunächst nachgeordnet. 

Mit dem Mauerfall änderte sich das. Vereinzelte Stimmen, wie der Berliner Theologe Wolfgang Ullmann oder bei „Demokratie Jetzt“, traten im Winter 1989 mit Überlegungen zur politischen Einheit Deutschlands hervor. Sie erfuhren aber auch Widerspruch, etwa durch den Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer. Zur selben Zeit zerfiel die Macht der SED zusehends. Als die Staatssicherheit Anfang Dezember begann, ihre Akten zu vernichten, fanden sich in den Bürgerkomitees zur Sicherung und Bewachung der Akten erneut viele evangelische Christen. Sie halfen mit, das Ministerium für Staatssicherheit zu entmachten – ein zentraler Beitrag, das Angstmonopol der SED zu brechen. Daneben ist die Rolle der evangelischen Kirche als Moderatorin des Runden Tisches hervorzuheben, an dem wiederum ebenfalls evangelische Christen für die demokratische Opposition saßen. Sie suchten nach Wegen für freie Wahlen und nahmen dann, nach den Wahlen vom 18. März 1990, in der ersten frei gewählten Volkskammer unterschiedliche Funktionen ein. Ein Teil von evangelischer Kirche war also in der Zeit vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung in die demokratische Transformation und den politischen Elitenwechsel der DDR eingebunden, trug zur Stabilisierung der demokratischen Kräfte in der DDR bei und versuchte mit politischen Mitteln, die deutsche Einheit auszuhandeln. Ihr Weggang und ihre Absorption von der Politik hinterließ in der evangelischen Kirche ein Vakuum; die nur kurze Zeit zuvor noch vorhandene Generationenvielfalt, diskursive Dynamik und Pluralität wich einer stärker verkirchlichten, die politische Neutralität der Kirche nach außen tragenden Repräsentanz.

Im Hinblick auf den kirchlichen Einigungsdiskurs stellte auf kirchenleitender Ebene des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und der Evangelischen Kirche in Deutschland die am 17. Januar 1990 formulierte Loccumer Erklärung entscheidende Weichen. Sie erfuhr jedoch mit der Berliner Erklärung von Christen aus beiden deutschen Staaten vom 9. Februar 1990 dezidierten Widerspruch. Ihre Verfasser warnten vor nationalen Alleingängen und erinnerten daran, dass es ihnen in den 1980er Jahren um den globalen Perspektivwechsel und die Umkehr in den Schalom gegangen war.

 

Gerhard Lindemann

Nach dem Mauerfall rückte im gesellschaftlichen Diskurs das Thema der deutschen Einheit immer stärker in den Fokus. Der ost- und der westdeutsche Protestantismus waren darauf schlecht vorbereitet, weil man sich, wie auch die bundesdeutsche Politik, mit der Frage nach einer Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit kaum mehr beschäftigt hatte. Von daher kam es innerkirchlich zu Beginn des Jahres 1990 zu öffentlichen Friktionen, wobei allerdings Einigkeit darin bestand, dass der deutsche Einigungsprozess sich im Rahmen eines vereinten Europas vollziehen sollte. Evangelische Geistliche moderierten, zum Teil gemeinsam mit römisch-katholischen und freikirchlichen Amtsträgern, die Runden Tische, die für einen geordneten Übergang bis zu freien Wahlen zuständig waren. In der neu gewählten Volkskammer und der DDR-Regierung befanden sich eine Reihe von Pfarrern, Dozenten kirchlicher Ausbildungsstätten und in den Kirchen aktiven Ehrenamtlichen. Parlament und Regierung profitierten von ihrer praktischen Demokratieerfahrung.

 

Andreas Stegmann

Nicht alle, die die Abwicklung der DDR und die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik miterlebt und mitgestaltet haben, können sich mit dem Verhalten des ostdeutschen Protestantismus in diesen wild bewegten Monaten anfreunden. Tatsächlich war die politische Entwicklung schneller als alle innerkirchlichen Meinungsbildungspro-zesse, und es ist fraglich, ob diese Meinungsbildung je zu einem breit anerkannten Ergebnis geführt hätte. Der ostdeutsche Protestantismus stolperte mehr in die neuen Verhältnisse hinein, als dass er sie mitgestalten und in seinem Sinne prägen konnte. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit: Selbst wenn die evangelische Kirche und die evangelischen Christen in der DDR nicht die treibenden Kräfte der Transformation waren, so prägten sie die Umbruchszeit, indem sie die sich von der illegalen Opposition zu staatstragenden Parteien formierenden revolutionären Bewegungen begleiteten, zwischen den alten und neuen Kräften vermittelten und Verantwortung in den neu entstehenden Strukturen übernahmen. Obwohl die entscheidenden Weichenstellungen dieser Monate in kirchlichen Kreisen höchst um-stritten waren, kommt den an führender Stelle tätigen evangelischen Pfarrern und Theologen – man denke nur an den Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann oder den Sprachenkonviktsdozenten Richard Schröder – das Verdienst zu, den Übergang vom SED-Staat zur Bundesrepublik in staunenswert kurzer Zeit und mit großer Umsicht mitorganisiert zu haben. Auch hier könnte man verkürzt formulieren: Die Kirche hat sich mit der bundesrepublikanischen Demokratie und ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht ganz leichtgetan, aber in ihren Reihen gab es Demokraten von Format.

 

Ellen Ueberschär

Nach der Friedlichen Revolution erblickten die kirchlich Verantwortlichen in der raschen Wieder-Einführung des Staatskirchenrechtes der Weimarer Verfassung einen Stabilitäts- und Kontinuitätsfaktor ganz besonderer Art. Nicht zuletzt waren es die Kirchenspitzen selbst, die mit ihrer Loccumer Erklärung im Januar 1990 dazu aufriefen, rasch die kirchliche und staatliche Trennung zu überwinden. Damit gehörten sie zu den Kräften, die in ihrer Summe den enormen Druck aufbauten, unter dem der Einigungsvertrag verhandelt wurde.

Als im Februar 1991 die EKD-Synode und die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zum letzten Mal getrennt in Berlin tagten, war das Land bereits wiedervereinigt. Unter den Kirchenbündlern aus der DDR, von denen einige der Loccumer Erklärung widersprochen hatten, wurden starke Stimmen laut, die „Eingliederung und Anschluss“ beklagten. Die Abstimmung aber fiel eindeutig aus: Große Mehrheiten in beiden Kirchenparlamenten stimmten dem Kirchengesetz zur Vereinigung der beiden Kirchenbünde zu. Was nüchtern klingt, war in der Realität ein hochkontroverses Geschehen: Die neue deutsche Gesellschaft war mit existenziellen Solidar-Problemen beschäftigt, die Kirchen waren mit ihrer organisatorischen und finanziellen Konsolidierung und mit der Frage konfrontiert, ob das Konzept einer „Kirche im Sozialismus“ das System stabilisiert hatte oder ob ohne sie alles noch viel schlimmer gewesen wäre.

[Aus: Forum: Die Rolle der Kirchen im Umbruch von 1989/90 in Forschung und Erinnerung. In: MKiZ 14 (2020), S. 99-127.
 

St. Marien, Berlin

Das Schweigen der Glocken

Als im Jahre 1990 die Deutschen ihre neue Einheit feierten, blieben mancherorts die Kir­chenglocken stumm. Dem Schweigen der Glocken war eine wochenlange, heftige Debatte um die geeignete Form der kirchlichen Beteiligung am Tag der Wiedervereinigung vorangegan­gen. Entzündet hatte sich der "Glockenstreit" an dem Vorschlag des Kanzleramtsministers Rudolf Seiters, am 3. Oktober Gottesdienste zu veranstalten sowie die Kirchenglocken zu läuten. Diesem Anliegen wurde innerhalb der Evangelischen Kirche mit kritischer Zurückhal­tung begegnet. Nicht nur der Vorschlag selbst, sondern auch seine Herkunft stieß auf wenig Wohlwollen, mochte man sich doch nicht dem Vorwurf aussetzen, man ließe sich vom Staat Zeitpunkt und Anlass für Gottesdienste und Glockenläuten vorschreiben.[i] Zu Beginn einer neuen gesamtdeutschen Zeitrechnung kam es der Evangelischen Kirche darauf an, Eigenstän­digkeit gegenüber dem Staat und Unabhängigkeit von der Politik zu demonstrieren. Skeptisch gegenüber einer in ihren Augen allzu großen Staatsnähe der Kirche in der Bundesrepublik reagierten vor allem Vertreter der ostdeutschen Kirchenleitungen befremdet gegenüber dem von staatlicher Seite herangetragenen Anliegen. So bemerkte der Greifswalder Konsistorial­präsident Hans-Martin Harder, es sei bislang nicht üblich gewesen, "daß Bundesminister anordnen, wann Gottesdienste zu halten sind."[ii]

Letztlich sprach sich die Evangelische Kirche aber doch für Dank- und Bittgottesdien­ste am 3. Oktober aus. Hinsichtlich des Sonderläutens zur deutschen Vereinigung blieb es indes­sen bei einem Nein.[iii] Ausschließlich zu den Gottesdiensten sollte geläutet werden, nicht aber zur religiösen Überhöhung einer Nationalfeier. Keinesfalls wollte man sich in einer staats­kirch­lichen Rolle sehen und staatlichen Ereignissen den kirchlichen Segen geben. So wurde betont, die Kirche sei nicht dazu da, "ungerechtfertigte religiös-politische Erwartungen zu erfüllen."[iv] Der Protestantismus - so hieß es von Kirchenseite - habe an dieser Stelle in Zeiten des lan­desherrlichen Kirchenregiments und vor allem während der Herrschaft der Nationalso­zialisten "bitteres Lehrgeld zahlen müssen".[v] Die "gebrannten Kinder"[vi] wollten nunmehr die Konse­quenzen aus früherem Missbrauch der Glocken für kriegerische oder politi­sche Ereig­nis­se ziehen und erklärten die Verknüpfung der Kirchenglocken als christlichem Symbol mit rein nationalen oder politischen Zwecken für nicht statthaft.[vii] Als Lehre aus der Vergangen­heit sollte jeder bloße Anschein einer religiösen Überhöhung nationaler Ereignisse oder natio­naler Besonderheiten sowie generell eine Verengung auf die eigene Nation durch die Kirche für alle Zukunft vermieden werden.[viii] Die anfänglich manchmal zögerliche, dann aber teilwei­se radika­le Abwendung des deutschen Protestantismus von nationalem Denken seit dem Kriegs­ende, zeigte am Tag der Einheit ihre Wirkung.[ix]

Der Blick zurück bestimmte aber nicht nur die Entscheidung über das Glockenläuten, er sollte nach Auffassung der evangelischen Landesbischöfe auch bei den Predigten am 2. und 3. Oktober nicht fehlen. Dem Dank für die Wiedervereinigung sei die Erinnerung an die histo­rische Schuld der Deutschen als Grund für die Teilung an die Seite zu stellen.[x]

Der schuldbewusste Blick zurück verband sich bei manchen Kirchenvertretern mit einem skeptischen Blick nach vorne. Fern jedes "Jubelgottesdienstes" hielten sie es für eine kirch­liche Aufgabe, am 3. Oktober auch auf die Probleme der Wiedervereinigung zu verweisen und Kritik an den Modalitäten des Einigungsprozesses zu artikulieren.[xi] Dies handelte ihnen von seiten theologisch wie politisch konservativer Protestanten den Vorwurf der "Miesmache­rei" und "Angstschürerei" ein.[xii] Letztere machten sich zu Fürsprechern der Einheitsfeier, attestierten der Evangelischen Kirche eine "sauertöpfische" Haltung[xiii] und politisierten die Debatte, in dem sie sich gegen "das schändliche Treiben verstockter Katastropheten in der Kirche" wandten, "die die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkennen wollen" und alles versuchten, "unser Volk auf anderen Wegen zum Sozialismus zu (ver-)führen."[xiv] Auch im Streit um die kirchliche Beteiligung am neuen Nationalfeiertag kam somit die theologische wie politische Pluralität des deutschen Protestantismus zum Tragen.

Mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Sonderläuten erregten evangelische Kirchen­vertreter aber nicht nur den Protest konservativer Protestanten sowie den erklärten Unwillen des Bundeskanzlers,[xv] sie befanden sich mit ihr auch - was schwerer wiegt - im Widerspruch zur Befindlichkeit der deutschen Bevölkerung. Nach einer Wickert-Umfrage sprach sich die große Mehrheit der Deutschen in beiden Staaten für ein Läuten am Tag der Vereinigung aus.[xvi]

Der Glockenstreit um das Verhältnis von Staat und Kirche sowie Nation und Religion in der neuen, größer gewordenen Bundesrepublik beruhigte sich zum 3. Oktober hin ein wenig. Die kirchlichen Erklärungen und Predigten zum Tag der deutschen Einheit waren schließlich recht einhellig vom Dank für die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sowie der Mahnung an die Verantwortung gegenüber der nationalen, europäischen und globalen Zukunft be­stimmt.[xvii] In Anwesenheit staatlicher Würdenträger fand in der Ost-Berliner Marienkirche ein zentraler, ökumenischer Gottesdienst statt.[xviii] Im übrigen Deutschland wurden zahlreiche Dank- und Bitt­gottesdienste gefeiert und in der Nacht zuvor waren vielerorts auch die Gloc­ken evan­ge­lischer Kirchen geschlagen worden.[xix]

 

[i]. Vgl. epd ZA Nr.165, 1.

[ii]. epd ZA 1990 Nr.169, 1.

[iii]. epd ZA 1990 Nr.179, 1.

[iv]. So Hartmut Löwe, Präsident im EKD-Kirchenamt, in: epd ZA 1990 Nr.175, 2.

[v]. Bischof Kruse laut epd ZA 1990 Nr.176, 1. Zum Verhältnis von Nationalismus und Prote­stantismus vgl. Horst Zilleßen (Hg.), Volk - Nation - Vaterland. Der deutsche Protestantis­mus und der Nationalismus, Güters­loh 1970 und Kurt Nowak, Protestantis­mus und National­staat im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik - Drit­tes Reich - DDR/­Bundesrepublik, in: PTh 80 (1991), 446-458.

[vi]. Der Ausdruck wurde gebraucht vom Kirchenamtspräsidenten Har­tmut Löwe in einem Artikel des Deutschen Sonntagsblattes unter dem Titel: "Denken von ge­stern...", Ab­druck in: epd-Dok. 1990 Nr.12, 21.

[vii]. So begründeten Kirchenvertreter in vielen Landeskirchen ihre Ablehnung des Läutens zur Stunde der Ein­heit, in: epd-ZA 1990 Nr.175, 2. - Nach 1945 wurden in kirchlichen Lebens­ordnungen oder anderen Läuteord­nungsbestimmungen Regeln aufge­stellt, nach denen die Glocken einzig gottesdienstlichen Zwecken oder kirch­lichen Ver­anstaltungen vorbehalten waren.

[viii]. Auf dem ersten gesamtdeutschen Pastorentag in der nordelbi­schen Kirche verwies man auf die Gefahr, Nation und Glauben zu eng miteinander zu verbinden. Vgl. epd ZA 1990 Nr.179, 3.

[ix]. Kurt Nowak kennzeichnet eine solche Haltung als "negative Identität: der Wille, die Last der Vergangenheit als Mahnung für künftige Generationen zu tragen." Ders., Protestantismus, 447.

[x]. epd ZA 1990 Nr.179, 1.

[xi]. Vgl. epd ZA 1990 Nr.179, 2.

[xii]. So die Evangelische Sammlung Berlin, in: idea 1990 Nr.88, 3.

[xiii]. Zitat des Vorsitzenden der Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der Nord­elbischen Evange­lisch-Lutherischen Kirche, Pastor Ulrich Rüß (Hamburg), in: idea 1990 Nr.88, 3.

[xiv]. So die Evangelische Notgemeinschaft in Deutschland, in: idea 1990 Nr.88, 3.

[xv]. Bundeskanzler Kohl soll den Glockenstreit mit der Äußerung kommentiert haben: "Die Argumente gegen das geplante Glockenläu­ten sind an Dämlichkeit, Torheit und Hinterfotzig­keit nicht zu überbieten." Das Bundes­presseamt dementierte das Zitat, erklärte jedoch, daß der Kanzler sich über manche Äußerungen von Kirchen­vertretern "verwundert" gezeigt habe. epd ZA 1990 Nr.175, 1f.

[xvi]. 87% der Bürger der alten Bundesländer sowie 90% der Bürger der neuen Bundesländer sprachen sich für das Glockenläuten aus. epd ZA 1990 Nr.173, 2.

[xvii]. Vgl. epd ZA 1990 Nr.189, 6 und epd ZA 1990 Nr.191, 1f.

[xviii]. Vgl. epd ZA 1990 Nr.191, 1.

[xix]. Den Kirchenkreisen war die Entscheidung über Zeit und Ge­stalt eines Gottesdienstes zum deutschen Ver­einigungstag frei­gestellt worden. Zum Glockenläuten siehe: idea 1990 Nr.88, 2.

[Aus: Claudia Lepp: Protestanten feiern ihre Nation. Die kulturprotestantischen Ursprünge des Sedantags. In: Historisches Jahrbuch 118, 1998, S. 201-222.]



>> 28. August: 2020: Vor 75 Jahren wurde die EKD gegründet

Vor 75 Jahren gründeten 120 Männer aus 28 Landeskirchen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die Kirchenkonferenz tagte vom 27. bis 31. August 1945 im nordhessischen Treysa – nur drei Monate nach Kriegsende.
Die Kirche des Hessischen Diakoniezentrums Hephata in Schwalmstadt-Treysa war Schauplatz der ersten "Treysaer Kirchenkonferenz" vom 27.- 31. August 1945.


 

Interviews zum Thema:
Kirchenkonferenz in Treysa war „der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken“. Der Historiker Harry Oelke über die Gründung der EKD vor 75 Jahren im epd-Interview

Der Historiker Harry Oelke über die Gründung der EKD vor 75 Jahren. Interview im Sonntagsblatt vom 22.8.2020

Quellen zum Thema:

Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 1: 1945/46. Bearb. von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze. Göttingen 1995.

Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 2: 1947/48. Bearb. von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze. Göttingen 1997.

Literatur zum Thema:

Smith-von Osten, Annemarie: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1980.

Stationen des  Verfassungsprozesses der EKD

  • 27.-31.8.1945 Kirchenkonferenz in Treysa
  • 27.3.1947 Entwurf einer Ordnung der EKD
  • 4.1.1947 Verordnung über eine Kirchenversammlung der EKD
  • 5./6.6.1947 Kirchenversammlung in Treysa
  • 29.8.1947 bzw. 21.9.1947 Entwurf I der Grundordnung
  • 8.3.1948 zweite Fassung des Grundordnungsentwurfes und ihre Revisionen
  • 9.-13.7.1948 Kirchenversammlung von Eisenach
     

>> 20. Juli 2020: Vor 76 Jahren wurde das Attentat auf Hitler gewagt

Christlicher Glaube und Widerstand
Der christliche Glaube konnte sowohl die Neigung erhöhen, sich im Widerstand zu engagieren, er konnte aber auch dazu dienen, Widerstandspotenziale zu brechen. Die Rede von der Obrigkeit als Ordnung Gottes und die Gehorsamsforderung (Röm 13,1) sind ebenso Beispiele wie die lange Auseinandersetzung in den Widerstandskreisen, ob der Tyrannenmord im Fall Hitlers ethisch legitim sein könnte. Diese Ambivalenzen spiegeln sich in vielen Biografien, auch da, wo der Glaube zunächst Einzelne zu Parteigängern der NSDAP machte, die sich dann aber vom Nationalsozialismus abwandten und zu Gegnern wurden.

Zeitgenössische Reaktionen auf das #Attentat am 20. Juli 1944
In einem Brief an seine Verlobte drückte der Theologe Helmut #Gollwitzer seine Sorge um verschiedene Bekannte im Umkreis der Attentäter aus. Den Ausgang des Attentats brachte er mit Daniel 8,25 in Zusammenhang, wo es hieß: "Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er [ein frecher und tückischer König] wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten; aber er wird ohne Hand zerbrochen werden."
Gollwitzer war demnach davon überzeugt, dass Hitler nicht von Menschenhand gerichtet werden würde.

Quellennachweis: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 686 Nr. 518

Was ist kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung? Reflexionen zum 20. Juli
Vor 76 Jahren scheiterte das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli. Historische Forschung darf sich von solchen Gedenktagen durchaus inspirieren lassen. Doch ist es auch ihre Aufgabe, Erinnerungskultur zu historisieren. Dies leistet der Kirchenhistoriker Tim Lorentzen in seinem Beitrag in den "Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte" am Beispiel der evangelischen Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944. Zugleich reflektiert er über die kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung als theologische Aufgabe.
 

Auszug aus der Predigt von Johannes Schröder zum 20. Juli 1944
Bereits am 28. Juli 1944 erwähnte der Kriegspfarrer Johannes Schröder im Sendeprogramm des "Freien Deutschlands" in einem Beitrag zu „Deutschlands Frauen im Kampf für den Frieden“ das Attentat vom 20. Juli 1944 und verwies darauf, dass sich infolge des Attentats das NS-Regime auch gegen das eigene Volk wende. In einer Predigt für den 20. August bezeichnete er die Anführer des 20. Julis als "ernste, ihrer Verantwortung bewusste Christen". Sie hätten das "Signal zur Erhebung" gegeben. Daraus folgerte Schröder den Appell: "Die nächste Zukunft wird jeden Deutschen, jeden Christen im deutschen Land zu gleicher Entscheidung, zu gleichem Mut, zu gleichem Kampf fordern." 


 

Christliche Totenehrung des 20. Juli 1944
Das frühe Widerstandsgedenken war oft als christliche Totenehrung gestaltet. Bei dem hier wiedergegebenen Blatt handelt es sich um einen 1947 versandten Rundbrief des „Hilfswerks 20. Juli 1944“, eines Opferverbands, der sich v. a. zur Fürsorge an Angehörigen und Hinterbliebenen des politischen Widerstands gebildet hatte. Die Liste der Männer und Frauen, die nach dem gescheiterten Umsturzversuch getötet worden waren, ist als Ehrentafel gestaltet und in einen ausgesprochen christlichen Deutungsrahmen eingebettet. Gleichwohl sind unter den rund 150 Namen nur drei Geistliche: die Protestanten Dietrich Bonhoeffer und Friedrich Justus Perels sowie der katholische Jesuitenpater Alfred Delp. Der Rundbrief dokumentiert also, daß man außerhalb der Kirchen das Opfer der Widerstandskämpfer durchaus in christlichen Kategorien würdigen wollte. Nicht alle Angehörigen des Widerstands waren mit dieser Form der Totenehrung einverstanden. So schrieb am 3. Juni 1947 Eberhard Bethge an den Initiator der Liste,Carl-Hans Graf von Hardenberg: "Zur Form der ersten Seite hätte ich persönlich gewünscht, den Begrifff ,Heldentod‘ noch nicht zu verwenden, da er noch zu frisch belastet ist. Im Verein mit dem Satz: ,Für der deutschen Waffen Reinheit und Ehre‘ klingt mir die Formulierung zu absichtsvoll; ich glaube immer, daß die einfachsten Worte die angemessenste und größte Ehrung unserer Toten sind. Die mir nahestehenden Männer unter den in der Aufstellung genannten waren zunächst Vertreter des deutschen Bürgertums und suchten seine Schuld zu sühnen und zu wenden. Menschlichkeit und Weltbürgertum lagen ihnen wahrscheinlich näher als die Reinheit und Ehre der deutschen Waffen." 

(Berlin SB PK, Nachl. 299, Materialsammlung 20. Juli 1944).


>> 29.-31. Mai 2020: Vor 86 Jahren berieten die Synodalen in Barmen

Auf der ersten Reichsbekenntnissynode kamen die beiden Teile der sich formierenden Bekennenden Kirche zusammen: der lutherische Flügel, der vor allem durch die Bischöfe der sogenannten „intakten“ Landeskirchen von Bayern, Hannover und Württemberg repräsentiert wurde, und der unierte und reformierte Flügel, der insbesondere von dem oppositionellen Bruderrat der preußischen Landeskirche geprägt wurde, die ein deutschchristliches Kirchenregiment hatte und deshalb als „zerstört“ galt. Die 139 Synodalen aus allen Teilen Deutschlands – darunter nur eine Frau, Stephanie von Mackensen – verabschiedeten u. a. eine theologische Erklärung.

Die Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934 gilt als die „Magna Charta“ der Bekennenden Kirche. Sie besteht im Kern aus sechs Thesen – mit jeweils vorangestellten Bibelworten und anschließenden Verwerfungen. Ihr Hauptverfasser war der reformierte Bonner Theologieprofessor Karl Barth. Mit dem amtsenthobenen Altonaer Pfarrer Hans Asmussen und dem stellvertretenden bayerischen Landesbischof Thomas Breit waren aber von Anfang an auch zwei Lutheraner an der Entstehung der Erklärung beteiligt. Auf der ersten Reichsbekenntnissynode in Barmen wurde der Text zunächst in einem reformierten und in einem lutherischen Konvent geprüft und schließlich im Zusammenhang mit dem interpretierenden Referat Asmussens einstimmig angenommen. Lediglich der lutherische Erlanger Theologieprofessor Hermann Sasse sah sich aus formalen – nicht inhaltlichen – Gründen nicht in der Lage zuzustimmen, reiste aber gemäß alter kirchlicher Tradition vorzeitig ab, um die Einmütigkeit des Synodenbeschlusses nicht zu gefährden.

Die zentrale erste These der Erklärung betont im Gegensatz zur Lehre der Deutschen Christen die Exklusivität der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Jegliche natürliche Theologie, d. h. die Vorstellung einer Offenbarung Gottes in der Natur, in der Geschichte oder in menschlichen „Ordnungen“ (wie Rasse, Staat, Familie etc.), wird als falsche Lehre ausdrücklich verworfen.In der zweiten These spiegelt sich Barths Lehre von der sowohl die kirchliche als auch die bürgerliche Gemeinschaft umfassenden „Königsherrschaft Christi“ (Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären ...). Sie steht in einer gewissen Spannung zu der auf der Synode neuformulierten fünften These, die im Grunde der lutherischen „Zwei-Regimenten-Lehre“ entspricht (Eigenrecht des Staates, der allerdings Gott gegenüber verantwortlich ist). Die Thesen 3 und 6 warnen die Kirche vor einer Anbiederung an den jeweiligen Zeitgeist bzw. davor, ihrem Auftrag, an Christi Statt ... durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk, nicht untreu zu werden. In These 4 wird als Reaktion auf die diktatorischen Bestrebungen des deutschchristlichen Reichsbischofs eine hierarchische Ordnung der Kirche abgelehnt: Kirchliche Amtsträger üben nichts weiter aus als einen eigentlich der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienst.

Abgesehen von durchaus konkreter kirchenpolitischer Abwehr angesichts der Gleichschaltungsbestrebungen der Deutschen Christen enthielt die Barmer Erklärung ihrem Selbstverständnis nach kein politisches Programm. Widerstand oder Eintreten für die Opfer des Nationalsozialismus lagen nicht im Denkhorizont der ganz überwiegend nationalkonservativ eingestellten Synodalen (Martin Greschat). Die zweifellos vorhandene politische Bedeutung der Erklärung bestand paradoxerweise vor allem in der grundsätzlich ideologiekritischen Rückbesinnung auf die Theologie im engeren Sinne – darin, dass man sich, wie Klaus Scholder es formulierte, die damals übermächtige politische Fragestellung gerade nicht aufnötigen ließ. Immerhin gelang es der Bekennenden Kirche – anders als anderen gesellschaftlichen Großgruppen – sich der Gleichschaltung nachhaltig zu widersetzen.

Der Hauptverfasser der Erklärung war der reformierte Bonner Theologieprofessor Karl Barth. Dass dieser sie praktisch allein verfasste, während die anderen beiden Mitglieder der Arbeitsgruppe, die Lutheraner Hans Asmussen und Thomas Breit, ihren Mittagsschlaf hielten, gehört aber ins Reich der Legenden. Karl Barth hatte dies im Gespräch mit Tübinger Stiftlern 1964 behauptet: Tonquelle

Auszug aus der letzten Fassung der Barmer Theologischen Erklärung, Mai 1934. Quelle: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte München, Nachlass von Soden 7
 


>> Zum 8. Mai 2020: "Das Ende des Krieges machte uns frei von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ... Haben wir die Wurzeln jener Haltung, durch die die Herrschaft des Unrechts in Deutschland möglich wurde, ausgerissen ...?"

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Es dauerte lange, bis man sich in Deutschland an diesen Tag als Tag der Befreiung erinnerte. Gustav Heinemann hielt 1970 als erster deutscher Bundespräsident eine Rede zum 8. Mai, 1975 sprach sein Nachfolger Walter Scheel in seiner Rede den Befreiungscharakter des 8. Mai an. Die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs legte dann die Grundlage für ein grundlegend neues Verständnis dieses Datums.

Die EKD veröffentlichte 1965 erstmals einen Aufruf aus Anlass des Gedenkens an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Sein Kontext war das geteilte Deutschland. Damit ist der Text 75 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung doppelt erinnerungswürdig: "Vor zwanzig Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Damit zerbrach die nationalsozialistische Herrschaft ..."
(Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1965, S. 82)
 


>> 9. April 2020

Heute vor 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg ermordet. Inzwischen gilt er in allen Konfessionen als ein Märtyrer des 20. Jahrhunderts.

Weitere Informationen zur Rezeption des christlichen Widerstands seit 1945 am Beispiel Dietrich Bonhoeffers finden Sie hier: https://de.evangelischer-widerstand.de/#/zeiten/nach1945/D2003


Flossenbürg, Pankratiuskirche: Gedenktafel für Dietrich Bonhoeffer, 1953. Foto: Kai Kappel 2009

>> Video
zum Gedenken an das Novemberpogrom 1938


>> Oktober / November 2019: 30 Jahre Friedliche Revolution


Bundesarchiv, Bild 183-1989-1218-037 / CC-BY-SA 3.0

Vor 30 Jahren fand die Friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Berliner Mauer statt. Dies ist Anlass zu neuen Reflexionen über die Rolle von Christen und Christinnen sowie der Kirche in diesen Umbrüchen. Wer mehr über die historischen Ereignisse und Zusammenhänge erfahren möchte, dem seien nachfolgende zwei Publikationen aus den Reihen der EvAKiZ empfohlen:
Albrecht-Birkner, Veronika: Freiheit in Grenzen. Protestantismus in der DDR. Leipzig 2018.
Seit dem Ende der DDR ist auch über den Protestantismus in der DDR viel geschrieben worden. Im Zuge dessen ist es zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen gekommen. Sie reichen von sehr positiven Würdigungen vor allem angesichts der Rolle in der Friedlichen Revolution von 1989 bis zum Vorwurf vollständiger Anpassung an den DDR-Staat. Die zeitliche Nähe zum Geschehen bringt es mit sich, dass auch verschiedene damalige Akteure an den Deutungen der Geschichte nach wie vor beteiligt sind.
Der Band bietet einen knappen, allgemeinverständlichen Überblick über Phasen der Entwicklung und zentrale Themen des Protestantismus in der DDR unter Einbeziehung der Rezeptionsgeschichte. Dabei geht es um strukturelle und theologische Merkmale, die sich innerhalb der vom DDR-Staat gezogenen Grenzen – der äußeren wie der ideologischen – und ihnen zum Trotz auch unter der Signatur der Freiheit entfalteten.
Pelz, Birge-Dorothea: Revolution auf der Kanzel. Politischer Gehalt und theologische Geschichtsdeutung in evangelischen Predigten während der deutschen Vereinigung 1989/90. Göttingen 2018.
Auf Basis zumeist unveröffentlichter Sonntagspredigten wird gezeigt, welche Rolle die evangelische Kirche in den drei Nordbezirken der DDR 1989/90 einnahm. Wie wurden politische Ereignisse theologisch gedeutet? Welche politischen Schlussforderungen wurden gezogen? In welchem Verhältnis standen Alltagsbezüge und biblisches Wort in der Verkündigung? Und wie wurden die rasanten Ereignisse retrospektiv beurteilt und mit dem eigenen Glauben in Einklang gebracht? Das Ergebnis ist ein fundierter Eindruck davon, was Pastoren 1989/90 politisch dachten, glaubten und predigten und wie diese überzeugungen bis in die Gegenwart hinein transportiert und transformiert wurden. So bleibt die Betrachtung nicht bei der deutschen Einheit stehen, sondern die fortdauernde Wirkung der Zäsur von 1989/90 für das kirchliche Selbstverständnis in Norddeutschland wird untersucht: Welche Rolle nehmen die Ereignisse von 1989/90 in Predigten und Texten der vergangenen 25 Jahre ein? Inwiefern veränderten sich die Deutungen der friedlichen Revolution? Welche Rolle spielt das Wendejahr in der Identität der evangelischen Kirchen heute? Die Antworten leisten einen wichtigen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis der in der Nordkirche zusammengefassten Landeskirchen. Ein solches ist wesentlich für ein gelungenes Zusammenwachsen. Mit den Worten Bischof Gerhard Ulrichs: »Wer versteht, braucht keine Bilder vom anderen.«
 


>> Mai 2016: 80 Jahre Denkschrift der VKL II an Hitler

Seit 1935 versuchte das NS-Regime, die Kirchen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Ziel war es, den Kirchen jeden Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen und ihre Organisationen aufzulösen. Von Presse und Rundfunk wurden sie ausgeschlossen. Kircheneigene Publikationsorgane unterlagen massiven Beschränkungen. Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen wurde den Kirchen entzogen. Hohe Partei- und Staatsfunktionäre äußerten sich in ihren Propagandareden in abfälligster Weise über Christentum und Kirche. Zugleich wurde die evangelische Kirche durch eine Reihe neuer Gesetze einer immer schärfer werdenden Staatsaufsicht unterstellt.
Gegen diese Entwicklung protestierte die evangelische Kirche mehrfach. Ein Dokument aber ragt aus allen Protesten heraus: Die „Denkschrift der Vorläufigen Kirchenleitung an Hitler“ von Ende Mai 1936. In dieser Denkschrift wagten es die verantwortlichen Leiter der radikalen Bekennenden Kirche, über den kirchlichen Bereich hinaus auch Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung im nationalsozialistischen Staat zu üben. Es gibt keinen anderen Protest aus der Leitungsebene der evangelischen Kirche, in dem so deutlich gegen Antisemitismus, die Existenz von Konzentrationslagern und die Willkür der Gestapo Stellung bezogen wurde.
Den Führungskräften der Bekennenden Kirche fiel es allerdings nicht leicht, den NS-Staat zu kritisieren. Die meisten hatten sich von der nationalen Begeisterung mitreißen lassen und stimmten partiell mit den Zielen des Nationalsozialismus überein. Zudem war erst im Jahr zuvor nach einem ähnlichen Protest eine Verhaftungswelle über die Bekennende Kirche hereingebrochen. Deshalb durchlief die Denkschrift einen schwierigen Entstehungsprozess, in dessen Verlauf die politischen Aussagen mehr und mehr abgeschwächt wurden. Mehrmals war es fraglich, ob die Denkschrift überhaupt zustande kommen würde. Aus christlicher Verantwortung heraus rang sich die Bekennende Kirche letztlich aber doch dazu durch, die Denkschrift an Hitler weiterzuleiten. Hitler allerdings war nicht bereit, sich von der Bekennenden Kirche belehren oder zu einer Kurskorrektur bewegen zu lassen. Sie erhielt nicht einmal eine Antwort.

Weitere Informationen zu der Denkschrift und ihren Folgen finden Sie unter:  http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/karte//D4003/?zoom=7
sowie bei Mirjam Loos: Kirchlicher Protest und die Folgen. In: Ulrike Haerendel/Claudia Lepp (Hg.): Bekennende Kirche und Unrechtsstaat. Bad Homburg 2015, S. 31-54.
Den Text der Denkschrift finden Sie hier: http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/karte//D4003/?zoom=1

Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Die Zeitschrift beschäftigt sich mit der Entwicklung des deutschen und internationalen Protestantismus im 20. Jahrhundert und somit mit der Genese der Gegenwart und ihren Herausforderungen. Sie enthält Aufsätze, Bibliographien, Forumsbeiträge, Projekt- und Tagungsberichte sowie Nachrichten über zeitgeschichtliche Aktivitäten in den Landeskirchen und andernorts.

Inhalt Heft 17 (2023)

Aufsätze

Trauer und Trotz. Religiöses Kriegsgedenken nach 1918
Tim Lorentzen

Die Kultur des Gegners als Kraft zum Widerstand in Zeiten des Krieges. Dem Kriegsdienstverweigerer Wilhelm Schümer im Gedenken an seinen 80. Todestag
Maike Schult

„Kein Hinderungsgrund für eine Anstellung“. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und der NS-Jurist Wilhelm von Ammon
Nora Andrea Schulze

Mit „mancherlei Fesseln“ in den „Deutungskämpfen der Erlebnisgeneration“. Die Deutschen Christen und die EKD-Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in den 1950er Jahren
Marvin Becker

Rassen- und Sozialhygieniker als Bindeglied der nichtkonfessionellen und evangelischen Eheberatung in der bundesdeutschen Nachkriegszeit
Vera-Maria Giehler

„Solche unverschämten Brüder brauchen wir nicht!“ – Ein Beitrag zum Typus des ‘68er Pastors am Beispiel von Michael Schmidt
Carsten Linden

Miszellen

Ein gefälschtes Dibelius-Zitat und seine Folgen
Michael Heymel

Forschungsberichte

Geistlich und rechtlich gleich. Gleichstellung von Theologinnen im Pfarrberuf der Evangelischen Kirche in  Hessen und Nassau und ihren Vorgängerkirchen 1918–1971
Jolanda Gräßel-Farnbauer

Lebensläufe zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine duale Biografie von Helmuth Schreiner und Karl Themel
Maurice Backschat

Ein Raum „alternativer Öffentlichkeit“? Das Theologische Seminar Leipzig (1964–1992)
Marius Stachowski

Belastendes Erbe – Ein Projekt der Evangelischen Kirche der Pfalz zur Erfassung, Einordnung und digitalen Präsentation problematischer materialer Relikte aus der Zeit des Deutschen Reichs (1870–1945)
Marie Fischer/Christoph Picker

Tagungsberichte

Otto Dibelius (1880–1967). Neue Forschungen zu einer protestantischen Jahrhundertfigur
Michael Heymel

Diakonie und Caritas in Ostdeutschland vor und nach 1990. Potentiale für Ost und West. Was ist anders (geblieben), was soll anders werden?
Bettina Westfeld 

Nachrichten
Nachrichten aus der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte
Nachrichten aus Kirchengeschichtlichen Vereinigungen

 


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Publikationsdatum dieser Seite: 2024-05-10